Dortmund. Nach einem Moment des Entsetzens feiert die Südtribüne die BVB-Mannschaft trotzdem. Warum das manchen Fans mehr wert ist als die Meisterschaft.
Am Ende haben die Pessimisten gewonnen, dabei waren sie die Einzigen, die in Dortmund gar nicht gewinnen wollten. Der BVB, man kann das nur so sagen, wie Dortmunder es eben sagen zu Tausenden, „der BVB hat verkackt“. Kein Sieg, obwohl sogar Mainzer vorher gesagt haben: „Wir sind außen rot, aber im Herzen heute schwarz-gelb.“ Kein Meister, obwohl die Fußballfans am Abend schon wieder singen: „Dortmund ist Zweiter, und Schalke steigt ab.“ Es gab halt sonst nichts zum Freuen.
BVB-Fans fassungslos: "Sowas habe ich noch nicht erlebt"
Es ist erst die 40. Minute, da kann Hans es schon nicht mehr mit ansehen. Steht unter der Tribüne im Stadion, hält sich am Bierbecher fest und ist „todtraurig“. Seit 50 Jahren kommt er zum BVB, aber „sowas habe ich noch nicht erlebt“: Wie können sie das noch, schon wieder, „verkacken“? „Die haben zehn Millionen Menschen hinter sich“, und jetzt das. Hans hat Recht, die „100.000 Freunde, ein Verein“ aus dem Lied waren schon (fast) immer hoffnungslos untertrieben. Und mindestens diese zehn Millionen waren doch durch die Woche geschwebt mit diesem „Das lassen die sich nicht mehr nehmen“. (Und wenn die nun alle weinen, wie viele Liter Tränen sind das eigentlich?)
Sie haben es sich aber nehmen lassen. Selten ist auf diesen immer leidenschaftlichen Tribünen so oft Gott angerufen worden wie am Samstag, und selten wurde zugleich so viel geflucht. Viele gibt es, die sind haltlos wütend, schimpfen, andere wenden den Blick ab und können es nicht mehr mitansehen. Und am Ende: Da ist einen Moment Stille im Stadion. Fassungslosigkeit. Auf den Rängen stehen wildfremde Menschen mit Tränen in den Augen in wortloser Umarmung, auf dem Platz stehen, sitzen, liegen die Spieler allein.
Enttäuschung pur in Dortmund – Fans in Trauer
Und dann bricht die Südtribüne wieder los. Hier, wo sie am Beginn des Nachmittags ein torhohes und platzbreites Transparent gespannt haben: „Wir haben es in der Hand“, mit der Meisterschale in der Mitte. Wo sie nun nichts haben. Da fangen sie an zu singen. „Unser ganzes Leben, unser ganzer Stolz.“
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Sie haben das schon während des Spiels gesungen, immer lauter, je kleiner die Chance wurde. Nun heben sie ihre Schals in die Luft, sie klatschen, im Hintergrund läuft leise „Borussiaaa, Borussiaaa“. Es dauert lange, bis die Mannschaft reagiert. Aufsteht, langsam, ganz langsam näher kommt. Minuten, eine Viertelstunde, eine halbe. „Es ist alles sehr, sehr scheiße“, sagt Sarah auf der Osttribüne. „Aber trotzdem schön.“
Die dabei waren, werden das später alle sagen. Thomas zum Beispiel, der den Moment sein „Leben lang mitnehmen wird“. Diesen Moment, „der mehr wert ist als die Meisterschaft“. Oder Calvin, der dasitzt und den Moment genießt: „Hier passiert Einmaliges.“ Der 29-Jährige ist extra aus Irland gekommen, hat am Freitag noch ein Ticket gekauft für stolze 1100 Euro. Aber „ich bereue es kein bisschen“. Eine Genugtuung, sagt er, „das mit so vielen Menschen zu erleben“. „Eine Mannschaft zu feiern, die das hier erreicht hat.“ Das hier. Es gibt tatsächlich Leute, die weinen jetzt vor Rührung und schon gar nicht mehr, weil die Borussia den Meistertitel versenkt hat.
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Natürlich hätte es nicht auf dieses Spiel ankommen dürfen, es hätte das Bochum-Spiel nicht geben dürfen, das in Stuttgart nicht, den einen Schiedsrichter, die andere Niederlage. Aber das jetzt, was sich nach diesem Spiel abspielt: „Das kannst du für kein Geld kaufen“, sagt Philipp. „Lieber verliere ich so mit dem BVB, als einmal mit Bayern Meister zu werden.“ War das nicht die Mannschaft, wo gegen Leipzig die Fans in der 80. Minute gingen? Hier ist die 130. Minute, und sie singen immer noch. „Borussia Dortmund wird nie untergehen.“ Auf allen Banden und Leinwänden steht es: „Was auch immer geschieht, nur der BVB!“
„Verlieren und immer wieder aufstehen“, sagt Marvin ergriffen: „Das ist Dortmund.“ Hatten am Morgen, als sich die Stadt und ihre letzten Winkel gelb färbten, noch viele gesagt: „Wenn sie das heute ver...geigen, dann war’s das für die nächsten Jahrzehnte“? Doch, das haben sie gesagt, aber jetzt gucken die Fans schon wieder nach vorn. „In ein paar Jahren stehen wir hier und sagen, wir haben’s geschafft.“ In ein paar Jahren? Ingo hatte eine „23“ auf seinen Schal geklebt hinter das Wort „Meister“. Nun streicht er es durch und kritzelt „24“ hin. „Jetzt erst recht.“
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Draußen steht später ein Fan, der will unbedingt eine gebrauchte Eintrittskarte haben von diesem besonderen Spiel, für seine Sammlung. Und ein anderer, der eigentlich Geld verdienen wollte mit dem Titel: Drei Schals für 10 Euro verkauft der Mann und hält den Daumen auf eine Zahl, die das Tuch eigentlich unverkäuflich macht. Deutscher Meister 2023, die Fans wollen das trotzdem. Günther aus Reit im Winkl hat sich sogar ein neues Trikot besorgt, nach dem Spiel. Ein Bayer? In München, sagt Günther, „ist doch tote Hose, da gehen die Leute hin, die auf ‘ner Beerdigung keinen Platz mehr gekriegt haben“.
In Dortmund wüten einige noch und schimpfen, aber Bier beruhigt ja auch. „Die Welt dreht sich weiter“, so klingt das nach dem nächsten, und nach dem übernächsten hat diese Welt schon wieder „ganz andere Probleme“. Der Fußball lenke schließlich „vom Alltag ab“, findet Gitte. Der kommt nun einen Tag schneller zurück als geplant, keine Feier, kein Korso, nix mehr. „Bis zur nächsten Saison“, sagen die Fans und wünschen einander „einen schönen Sommer“.