Bottrop/Gladbeck. In seiner Jugend hatte Günni Korth einen schweren Unfall, später ließ er sich das Bein amputieren. Als Busfahrer ist er in Bottrop sehr beliebt.

Zur Begrüßung breitet er die Arme aus und lächelt. Oft fällt Günther Korths Begrüßung so herzlich aus, das ist mittlerweile schon so etwas wie sein Markenzeichen: Der 58-Jährige ist Busfahrer bei dem Unternehmen „Urban Reisen“ in Bottrop und Gladbeck und bringt täglich Menschen von A nach B. Doch eine Sache unterscheidet ihn von anderen Fahrern: Er ist beinamputiert.

Durch einen Zugunfall wird er als Jugendlicher schwer verletzt und ist jahrelang im Krankenhaus. Doch das hält Günther Korth nicht davon ab, sein Leben zu leben. Mit langer Hose oder im Bus sitzend, sieht man Günther, oder auch liebevoll „Günni“ genannt, sein Handicap nicht an. Erst, wenn der Akku der Prothese mit dunkler Musterung leer ist oder er eine kurze Hose trägt, sieht man sein Bein in der Prothese.

Sich bewegen kann Günther ganz normal, wenn der Akku leer ist, bleibt das Bein allerdings steif. Wenn es piept, wissen er und seine Frau Bescheid: „Ich mache wieder Geräusche, also muss das Ding an die Lade!“

Seine Kindheit war von Gewalt und Alkohol geprägt

Bei dem Besuch in seiner Wohnung zeigt sich schnell: Familie ist für ihn alles. Mit seiner Frau ist er seit 27 Jahren verheiratet, hat zwei Kinder und einen Enkel. Heute scheint alles gut – doch das war nicht immer so. Bis zur Scheidung seiner Eltern hat Günni eine behütete Kindheit; er wächst in einer Binnenschifferfamilie auf, insgesamt hat er fünf Geschwister. Doch dann überwiegen die schlechten Momente.

Günni Korth vor seinem Bus – seit 2019 arbeitet er für Urban Reisen.
Günni Korth vor seinem Bus – seit 2019 arbeitet er für Urban Reisen. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Es vergeht einige Zeit, bis eine Tante das Jugendamt einschaltet und die Kinder in eine Pflegefamilie kommen. „Die Hölle pur“, sagt Günther nur knapp dazu. Ihm ist anzusehen, wie schwer die Zeit damals gewesen sein muss. Die Reise geht weiter in ein evangelisches Kinderheim, bis sein leiblicher Vater die Kinder wieder nach Hause holt. Zwischenzeitlich lebt er für wenige Monate bei seiner Mutter, ihr neuer Lebensgefährte ist Alkoholiker, wird gewalttätig, habe sogar auf eines der Kinder geschossen. Ab da hätten die Kinder mit einem Messer unter dem Kissen geschlafen.

In der Zeit trifft er einen neuen, vierbeinigen Freund vor einem Kiosk. Dort sitzen alkoholisierte Männer mit einem Hundewelpen und sagen: „Wenn du uns zwei Flaschen Bier kaufst, kriegst du den Hund.“ Von seinem Taschengeld kauft Günther das Bier und bekommt den kleinen Welpen, den er „Teddy“ nennt.

Mit 14 Jahren vom Zug erfasst: Kurz klinisch tot

Am 2. Dezember 1980 verändert sich das Leben des damalig 14-Jährigen schlagartig. Gemeinsam mit einer Freundin und dem Hund Teddy gehen sie spazieren am Abend. Seine Begleitung überquert eine Absenkung, in der Bahnschienen verlaufen. Als sie Teddy ruft, läuft der Hund los. Plötzlich kann Günther die Scheinwerfer des Zuges erkennen. Der Hund bleibt mitten auf den Gleisen stehen und rührt sich nicht. Ohne nachzudenken, hechtet der Junge auf die Gleise, um seinen Hund zu retten.

Doch es ist zu spät: Der Schneepflug erwischt den Teenager mit voller Wucht: „Vom Aufprall selbst habe ich gar nichts mehr mitbekommen. Ich habe nur noch die Scheinwerfer gesehen und wusste, dass ich zu Teddy muss. Der Zug kam innerhalb von Sekunden“, so schildert Günther Korth den fatalen Unfall.

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Das Verletzungsbild ist schwer: Drei Minuten ist er klinisch tot, Lendenwirbel und Schädel sind gebrochen. Er liegt eine Woche im Koma. Sein Körper ist schwer beschädigt. Teddy hat es nicht geschafft, der Zug hat ihn überrollt. Nach der Erzählung entsteht eine kurze Pause, denn Günther muss nachdenken. So viele Jahre ist der Unfall her, trotzdem erinnert er sich an die schmerzhafte Zeit danach: Es folgen Monate im Krankenhaus und mehr als 50 Operationen. „Egal, wo der liebe Gott entschieden hat, wer Mist abbekommt, es scheint, als hätte ich immer die Hand gehoben“, sagt Günni.

Seine Wunde am Oberschenkel entzündet sich und der Hüftknochen wird immer kleiner. 1983 wird das Hüftgelenk steif gelegt. Es folgt eine Knochenmarksentzündung, durch die er ein Jahr liegen muss und elfmal operiert wird. Sein Knie büßt ordentlich Funktion ein und das eine Bein ist deutlich kürzer als das andere.

Jahre voller Schmerzen: „Ich wollte eine Amputation“

Trotz Schmerzen fängt Günni eine Ausbildung zum Zerspanungsmechaniker an. Im Jahr 1990 folgt die nächste Hiobsbotschaft: Er kann nicht mehr laufen, eine Venenthrombose lähmt ihn. Wieder wird er an der Hüfte operiert. Danach arbeitet er als Tierpfleger, macht ein eigenes Reptiliengeschäft auf, lernt Orthopädieschuhmacher und gründet eine Tierhilfe.

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Erst scheint sich alles zum Besseren zu wenden: 1994 zieht Günther nach Gladbeck, lernt seine Frau kennen und lieben. Doch die gute Zeit weilt nicht lange. Eine Lymphzyste drückt die Schlagader am Bein ab, es ist wortwörtlich „kurz vorm Platzen“. Die Naht bleibt neun Monate offen, es bildet sich ein Loch im Bein, daraus resultiert eine Knochenhautentzündung. Ab da ist für ihn klar: „Ich will das Bein nicht mehr haben. Es schmerzt und tut nur noch weh. Mein Hausarzt hat mich für bescheuert erklärt, als ich ihm von der Amputation erzählt habe“, so Günther.

Im Jahr 2003, mit 38 Jahren, ist es dann so weit: Im Prosper Krankenhaus in Recklinghausen wird ihm der linke Unterschenkel entfernt, die Operation verläuft gut. Danach sollte alles besser werden und ein ganz neuer Lebensabschnitt beginnen. Doch Phantomschmerzen quälen ihn, es brennt, sticht oder fühlt sich an wie Elektroschocks. Ein Herzinfarkt folgt. Für die Schmerzen bekommt er Morphium: „Ich bin in eine Morphiumsucht abgerutscht. Nach einem kalten Entzug habe ich keine Phantomschmerzen mehr, nur noch ab und zu.“

Im Alter von 38 Jahren ließ sich Günther Korth das Bein amputieren.
Im Alter von 38 Jahren ließ sich Günther Korth das Bein amputieren. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

An eine Sache kann sich Günther noch sehr gut erinnern, er fängt an zu lachen: „Es ist so surreal, aber ich bin Roller gefahren und es hat geregnet. Dann hat es sich so angefühlt, als hätte ich Wasser im Schuh und könnte die Nässe in meinen Socken spüren.“

Ein neues Kapitel: Der Weg zum Busfahrer

Danach arbeitet Günni lange auf dem Bau, bis sein rechtes Knie anfängt zu schmerzen und der Schleimbeutel sich entzündet. Es kommt die rettende Idee: Ein Busfahrer einer bekannten Straßenbahnfirma fragt ihn, ob er nicht Busfahrer werden wolle. Damit sei er der erste amputierte Berufskraftfahrer in Bottrop. Ab da beginnen Günthers Augen zu leuchten: Die Rentenkasse übernimmt die Kosten. Alles wendet sich zum Guten, Bewerbungsgespräche verlaufen gut.

Das Unternehmen „Urban“ gibt Günther Korth eine Zusage und im Jahr 2019 kann er endlich den Führerschein machen. Der Prüfer habe es ihm allerdings nicht leicht gemacht: Er muss Simulationen durchgehen, wie in etwa eine Handtasche unter dem Bus hervorziehen oder auf allen vieren unter den Bus kriechen. Für alle Fälle. Doch auch das meistert er mit Bravour. Die Firma Urban sagt: „Dieser Mann braucht Arbeit!“. Gesagt – getan. Nach nur einem, statt zwei Jahren, bekommt Günni die Festanstellung und darf einen nagelneuen Bus fahren. Das darf nicht jeder.

Und dass Günni Humor hat, zeigt auch eine Bildmontage, die Günther Korth entworfen hat: „Wir reißen uns für Sie ein Bein aus“ steht auf einem Foto mit Günni, ohne Prothese am Bus lehnend.

Ein bisschen Spaß muss sein: Günther Korth vor seinem Bus mit dem Spruch: „Wir reißen uns für Sie ein Bein aus.“
Ein bisschen Spaß muss sein: Günther Korth vor seinem Bus mit dem Spruch: „Wir reißen uns für Sie ein Bein aus.“ © Korth

Beinamputierter Busfahrer aus Bottrop: „Ich bin immer wieder aufgestanden“

Ich bin einfach immer wieder aufgestanden. Viele Jahre waren schlecht, aber letztendlich hat doch alles gepasst“, sagt Günni. Seine Stärke verdankt er hauptsächlich seiner Familie, die ihn bei jeder Entscheidung unterstützt. Solche Erfahrungen schweißen die Familie noch enger zusammen. Zwischen den Kindern, seiner Frau und Günther passt kein Blatt.

Diskriminierung aufgrund seiner Behinderung hat er nie erfahren. Eher im Gegenteil. Viele Fahrgäste reagieren sogar neugierig auf seine Hightech-Prothese in Totenkopf-Optik. Trotz aller Schmerzen, Eskapaden und Unsicherheiten würde Günther Korth immer wieder dasselbe tun: Auf die Gleise springen und versuchen, Teddy zu retten.