Bottrop. Bottroper Pädagogen beobachten: Vor allem das Leseverständnis fehlt. Was tun? Ein Projekt von Gesamt- und Grundschule geht einen neuen Weg.

Laut der internationalen Vergleichsstudie Iglu erreicht rund ein Viertel der Viertklässler in Deutschland keine ausreichende Lesekompetenz. Die Landesregierung will deshalb an den Grundschulen neue Maßnahmen zur Leseförderung etablieren. Längst sehen Bottroper Schulen die Probleme, versuchen Abhilfe zu schaffen. Soweit es die Ressourcen zulassen – und die sind begrenzt, bemängelt der Verband Bildung und Erziehung (VBE) Bottrop.

„Tatsächlich können wir bestätigen, dass Kinder bei uns mit recht schwacher Lesekompetenz in Klasse fünf ankommen“, sagt Amira Schynol, Deutschlehrerin an der August-Everding-Realschule (AER). Verstärkt spürbar sei das noch nach den Corona-Jahren. Das Lesen selbst sei dabei nicht so das Problem, dafür aber das Verstehen dessen, was gelesen wird. AER-Schulleiterin Maria Stolte-Enck berichtet zudem von einem eingeschränkteren Wortschatz. Dabei hätten die Probleme nichts damit zu tun, ob Kinder einen Migrationshintergrund haben oder nicht – „das Interesse am Lesen wird einfach geringer“.

Schulleiter: „Die Gesellschaft ist viel mehr in die Mündlichkeit gegangen“

An der Janusz-Korczak-Gesamtschule (JKG) sieht man in den Eingangsklassen Ähnliches. Felicitas Veitschegger, didaktische Leiterin, beobachtet zum Beispiel, dass es Schwierigkeiten bei der Bearbeitung von Sachtexten gibt, weil die Informationen aufgrund fehlender Lesefertigkeiten teils nur unzureichend entnommen werden können. JKG-Leiter René Heuwieser ergänzt: „Die Gesellschaft ist viel mehr in die Mündlichkeit gegangen.“ Ein Beispiel: „Wenn ich ein Thema recherchieren möchte, bekomme ich im Internet ein Video dazu.“ Oder das Thema Märchen: Die würden die Kinder oftmals nur noch dann kennen, wenn sie als TV-Format zu sehen seien.

Hamza, Aseel, Rohat und Irem sind die Sechstklässler, die beim Leseprojekt an der JKG Bottrop mitmachen. Zuletzt haben sie sich mit den Zweitklässlern das Buch „Der kleine Käfer Immerfrech“ vorgenommen.
Hamza, Aseel, Rohat und Irem sind die Sechstklässler, die beim Leseprojekt an der JKG Bottrop mitmachen. Zuletzt haben sie sich mit den Zweitklässlern das Buch „Der kleine Käfer Immerfrech“ vorgenommen. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Gabriele Kado, Leiterin der Nikolaus-Groß-Grundschule, sagt: „Ich kann nicht sagen, dass alle Kinder schlechter lesen. Aber insgesamt scheint weniger gelesen zu werden.“ Für die Grundschulpädagogin ist ganz klar: „Lesefertigkeit fördert man, indem man die Freude am Lesen fördert.“ Auf den Vorschlag aus der benachbarten JGK, ein gemeinsames Leseprojekt zu starten, ist sie deshalb gerne eingegangen.

Das läuft seit Beginn des Halbjahres und sieht so aus: Vier lesebegeisterte Schüler und Schülerinnen aus den sechsten Klassen – nämlich Hamza, Rohat, Irem und Aseel – üben mit zehn bis zwölf Zweitklässlern alle 14 Tage das Lesen. Ermöglicht wird das im Rahmen der Talentschul-Einheiten an der JKG, bei denen im sechsten Jahrgang zum Beispiel auch Buchvorstellungen ohne Notendruck vorgesehen sind.

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Begleitet von Sonderpädagogin Claudia Eisinga-Host und Lehrer Daniel Böckenhüser gibt es dabei vier Kleingruppen mit unterschiedlichen Leseniveaus. Die Zwölfjährigen, die sich in Lesewettbewerben in ihren Klassen hervorgetan haben, finden das Projekt richtig gut. Aseel (12) zum Beispiel nennt als Vorteil: „Wir sind auch Kinder, sie lernen von uns. Und wir lernen auch dadurch.“ Hamza (12) erzählt, dass die Zweitklässler gut mitmachen, Rohat (12) betont: „Ich helfe ihnen, wenn sie Probleme haben“. Und Irem (12) kann ihren eigenen Spaß am Lesen weitergeben.

Das genau ist ein Hauptziel des Projektes: Zu zeigen, wie viel Spaß das Lesen macht und dass es neue Welten eröffnen kann. Zudem sorgt es für die Stärkung des Selbstbewusstseins der beteiligten Schülerinnen und Schüler.

Rohat (12) übt mit den Zweitklässlern Max und Elias das Lesen an der Janusz-Korczak-Gesamtschule in Bottrop.
Rohat (12) übt mit den Zweitklässlern Max und Elias das Lesen an der Janusz-Korczak-Gesamtschule in Bottrop. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Auch in der August-Everding-Realschule zum Beispiel habe man die Leseförderung auf dem Schirm. In Klasse fünf und sechs werden gezielt Bücher gelesen, so Amira Schynol. Zudem gibt’s eine Schulbücherei. Wie etwa auch an der Nikolaus-Groß-Grundschule. Die zieht laut Gabriele Kado demnächst in einen größeren Raum, wo in Ruhe gelesen werden könne. Und Bücher ausgewählt, ohne dass die Eltern daneben stehen. Wie die von Erwachsenen oft ungeliebten Comics. Kado findet: „Wenn man Kinder damit zum Lesen bekommt, ist das doch gut.“

Lehrerverband: „Gemeinsame Verantwortung aller an der Bildung der Kinder“

Die Einbindung der weiterführenden Schulen (sowie der Kitas) in die Stärkung der Lesekompetenz ist auch etwas, was Christoph Mewes als Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) in Bottrop fordert. „Maßnahmen zur Förderung der Lesekompetenzen betreffen nicht allein die Grundschulen.“ Denn: „In der aktuellen schwierigen Situation durch den akuten Fachkräftemangel ist eine gemeinsame Verantwortung aller an der Bildung der Kinder Beteiligten wichtig.“

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Insgesamt spiegeln die Iglu-Daten (Iglu steht für Internationale Grundschule-Lese-Untersuchung 2021) für Christoph Mewes, der selbst Grundschulleiter ist, wider, „wie sehr an den Schulen ausgebildete Lehrkräfte fehlen“. Und weiter: „Die Lesekompetenz ist elementar wichtig für die gesamte Bildungslaufbahn und Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes. Um allen Kindern den Erwerb der Lesekompetenz zu ermöglichen, ist eine durchgehende individuelle Förderung notwendig.“ Dafür, so Mewes, würden an den Schulen ausgebildete Fachkräfte benötigt: „Aktuell sind viele Klassen zu groß, die Heterogenität in den Lerngruppen bringt die Lehrkräfte an ihre Belastungsgrenze.“

Grundschulleiterin: Lesepaten haben eine wichtige Funktion

Gabriele Kado sagt aus ihrer Erfahrung: „Die Unterrichtszeit gibt es nicht mehr her, dass man innerhalb der Schule Vorlesezeiten einrichtet.“ An ihrer Schule gebe es Lese-Eltern, die das übernehmen. Die Kinder schätzten es, die Aufmerksamkeit eines Lesepaten mal ganz für sich zu haben. „Das ist etwas, das in der Schule zu kurz kommt. Man hat zu viele Kinder.“