Bottrop. 1989 bringt der mehrfach vorbestrafte Lothar Otremba in Bottrop einen Neunjährigen um. Vorausgegangen ist eine gravierende Fehlentscheidung.

Es war eine Fehlentscheidung mit dramatischen Konsequenzen: Das Duisburger Landgericht entließ Ende der 1980er-Jahre den Bottroper Lothar Otremba, vorbestrafter Sexualtäter, gegen den Rat der Experten. 1989 tötet der 23-Jährige den neun Jahre alten Jürgen-Marcel aus dem Fuhlenbrock. Zuvor hatte er ihn sexuell missbraucht.

Der Täter und das Opfer wuchsen nah bei einander, aber doch völlig unterschiedlich auf. Jürgen-Marcel kommt 1980 zur Welt. Der Vater hat studiert und arbeitet als Rechtsanwalt in seiner eigenen Kanzlei in Oberhausen, es ist ein bürgerliches Umfeld im Fuhlenbrock. Er ist ist ein wissbegieriger Junge. Jürgen-Marcel interessiert sich für Versteinerungen. Regelmäßig ist er auf seinem roten Rennrad unterwegs, immer in der Hoffnung auf neue Versteinerungen.

Hier geht es zur Gerichtsreporter-Folge: Der Kindermord des „geheilten“ Sexualtäters

Lothar Otremba wird am 29. Juni 1965 geboren, wächst in einer Bergarbeitersiedlung auf. Man würde Lothar heute als verhaltensauffällig bezeichnen. Erst 1989, nach dem Mord und damit viel zu spät, werden Psychiater ihm einen psychischen Defekt seit seiner Geburt bescheinigen.

1979 kommt Bottroper Mörder erstmals in Verdacht, Jungen zu belästigen

1979, da ist Lothar 14 Jahre alt, gerät er zum ersten Mal in Verdacht, kleine Jungen sexuell zu belästigen. Er kommt vor Gericht, wird aber freigesprochen. Ob als Belohnung oder um ihn abzulenken, seine Mutter kauft ihm ein Haustier. Es ist ein Kapuzineraffe. Das Tier kommt im Keller in einen viel zu engen Käfig. Kurz darauf nimmt ihn die Polizei erneut fest, weil er kleine Jungen begrapscht. Doch er bleibt weiter auf freiem Fuß.

Nur einen Monat nachdem er so glimpflich davonkam, begeht Lothar Otremba erneut einen sexuellen Missbrauch. Er streichelt einem 13-Jährigen über die Hose, berührt dessen Geschlechtsteil. Er fällt auch im Stadtpark mit entblößtem Glied auf. 1982 verurteilt ihn das Jugendschöffengericht Bottrop zu einem Jahr Jugendstrafe und weist ihn in eine geschlossene psychiatrische Klinik ein. Eine Maßnahme, die erst endet, wenn der eingewiesene Straftäter als geheilt und eine Wiederholungsgefahr als unwahrscheinlich gilt.

Er flieht, sechs weitere Jungen fallen ihm zum Opfer. Am 4. Februar 1987 verurteilt das Jugendschöffengericht Duisburg den 21 Jahre alten Wiederholungstäter Lothar Otremba zu zwei Jahren Jugendstrafe, erneut mit Einweisung in die geschlossene Psychiatrie.

Fehleinschätzung des Gutachters: „Es ist zu verantworten, Herrn Otremba zu entlassen“

Der erfahrene Strafverteidiger Scheidt verteidigt nun Otremba, als dieser in Berufung geht. Er beauftragt den renommierten Sexualwissenschaftler Eberhard Schorsch, Otremba zu begutachten. Eine verhängnisvolle Entscheidung: Dem Landgericht Duisburg versichert er Anfang 1988, dass es Lothar Otremba nicht als gefährlich einzuschätzen habe: „Ich bin der Ansicht, dass es zu verantworten ist, Herrn Otremba zu entlassen.“ Das Duisburger Landgericht ändert das Urteil des Jugendschöffengerichtes entscheidend ab, Otremba kommt frei.

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Es ist ein Zufall, dass Jürgen-Marcel ein Jahr später, am 30. Januar 1989, nachmittags auf seinen Mörder trifft. Beide kannten sich nicht. Der Neunjährige ist auf seinem roten Rennrad wieder einmal auf der Suche nach Versteinerungen. Otremba zieht am selben Tag mittags los. Er hat sich vorbereitet. Warum sonst sollte er auf seiner Tour in den Stadtpark vier Müllsäcke mitgenommen haben? Und das Messer. Die Klinge misst in der Länge 14 Zentimeter. In der Nähe des Friedhofs trifft er auf Jürgen-Marcel, spricht ihn an, will ihm „Spannendes“ zeigen.

Die Neugier von Jürgen-Marcel ist geweckt. Er folgt dem älteren Mann, der damals 23 Jahre alt ist. Es geht im Fuhlenbrock zum einsamen Gebiet an der damals schon geschlossenen Kokerei Jacobi. Unter einer Brücke der alten Zechenbahn wirft er den Jungen auf den Boden. Der Neunjährige hat keine Chance gegen den 23-Jährigen mit seinen 81 Kilo Körpergewicht.

Lothar Otremba tötet Jungen mit 19 Messerstichen

Er missbraucht den Neunjährigen, bleibt dann auf ihm liegen. Otremba will plötzlich Wut und Hass auf den Jungen entwickelt und deshalb mit dem Messer zugestochen haben, erzählt er nach seiner Festnahme. 19 Stiche. Aber zunächst habe er Jürgen-Marcel gewürgt. Aus Wut. Bis zur Bewusstlosigkeit.

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Weil die Eltern sich immer auf Jürgen-Marcel verlassen durften, wird seine Mutter zusehends nervös, als er um 18 Uhr nicht wie verabredet nach Hause kommt. Um 19.30 Uhr meldet sie ihren Sohn bei der Polizei als vermisst. Obwohl es zu dieser Jahreszeit schon dunkel ist, setzt sofort die Suche ein. Auch die Eltern helfen mit. Jürgen-Marcels Vater ist es, der in der Nacht zum 31. Januar um 23 Uhr das rote Rennrad seines Sohnes in der Nähe der Kleingartenanlage Beckramsberg in einer Böschung gefunden hat. Jetzt ist jedem der Suchenden klar, dass etwas Schreckliches passiert sein muss.

Am nächsten Morgen die traurige Gewissheit. Ein Polizist findet die Leiche des Jungen unter der Zechenbahnbrücke zur Kokerei Jacobi in einer steilen Böschung. Nur 500 Meter entfernt vom Elternhaus. Ein unglaublicher Zufallsfund, sagt der zuständige Essener Staatsanwalt Wolfgang Reinecke, denn der Mörder hat den toten Körper gut verborgen. Drei grell-grüne Müllsäcke hat er dem Jungen über den Kopf gezogen. Einer verdeckt die Beine. Darüber hat er Steine geschichtet.

Polizei kommt Bottroper Mörder schnell auf die Spur

Es dauert nicht lange, bis die Ermittler Otremba auf die Spur kommen. Ein Bottroper Polizist erinnert sich, dass ganz in der Nähe ein junger Mann wohnt, der schon öfter Jungen missbraucht hat. Lothar Otremba ist sofort der Hauptverdächtige. Die Polizei trifft ihn in der Wohnung der Eltern nicht an. Aber um 22.30 Uhr stellt sich Lothar Otremba. Der Haftrichter schickt Otremba zurück in die geschlossene Psychiatrie.

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Am 23. März 1990 beginnt der Strafprozess gegen den 24-Jährigen vor dem Essener Schwurgericht. Die Justiz hätte die große Chance gehabt, die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, warum zwei Jahre zuvor der Gutachter Schorsch und das Landgericht Düsseldorf so falsch gelegen hatten. Doch eine solche Aufarbeitung spiegelt sich in der Berichterstattung über die Verhandlung nicht wider.

Bottroper Kindermord: Kritik am Urteil

Staatsanwalt Bernd Schmalhausen liest die Antragsschrift vor. Darin nennt er Otremba schuldunfähig und fordert wegen Wiederholungsgefahr dessen Einweisung in die geschlossene Psychiatrie. Er spricht von einer schizoiden Persönlichkeit und schwerer seelischen Abartigkeit des mittlerweile 24-Jährigen. Schon am dritten Prozesstag wird das Urteil verkündet. Otremba wird auf Antrag von Staatsanwalt und Verteidiger wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen und wegen seiner andauernden Gefährlichkeit in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen.

Es gibt Kritik an dem Urteil, in dem es scheint, als sei Otremba nicht der Täter, sondern das Opfer seiner selbst gewesen. Der 57 Jahre alte Mörder sitzt noch immer in der geschlossenen Psychiatrie.