Bottrop. Ihre Kunden hat die Bottroper Handyboxx mit besonders billigen Angeboten gelockt. Jetzt warten hunderte auf ihr Geld oder ihre Vodafone-Produkte.
Bünyamin Kara, das Gesicht der Handyboxx, war in Bottrop präsent. Er spendete an karitative Einrichtungen, sponsorte Stadtfeste und bespielte die Sozialen Medien mit seinen Mobilfunk-Angeboten. Doch seit Mitte Februar gibt es die Handyboxx nicht mehr. Der Handy-Shop, der fast ausschließlich Vodafone-Produkte vertrieben hat, ist aus der realen und virtuellen Welt verschwunden.
Hinter der Schließung des kleinen Bottroper Ladens stecken im großen Stil Datenmissbrauch und der Betrug Tausender Kunden, Verstöße gegen das Telekommunikationsgesetz und das Transparenzgebot sowie die Zweckentfremdung von Werbekostenzuschüssen – mit Wissen und Unterstützung des Megakonzerns Vodafone, wie WAZ-Recherchen aufgedeckt haben.
„Massenbetrug bei Vodafone mit tausenden Opfern“
Inan Koc sitzt in seinem Büro in Bottrop, er führt hier ein Kommunikationsunternehmen. Früher hat er selbst in Shops gearbeitet, die Vodafone-Produkte vertrieben haben, hat erlebt, wie dort Kundendaten missbraucht wurden. Seit Jahren sammelt er Beweise gegen das Unternehmen, schreibt täglich E-Mails an den Vodafone-CEO Philippe Rogge, an Presse-Vertreter, Staatsanwaltschaften, Politiker.
Er spricht von einem „Massenbetrug“ bei Vodafone, von „tausenden Opfern“ und einem „Schneeballsystem“, das „von der Vodafone GmbH finanziert und am Leben gelassen“ wurde. Der WAZ hat er dutzende Dokumente, E-Mails, Screenshots von WhatsApp-Kommunikationen zur Verfügung gestellt, die zeigen, wie der Bottroper Fall der Handyboxx exemplarisch für den Betrug steht, der von Vodafone zugelassen wird.
Bottroper Handyboxx ließ sich sensible Daten per WhatsApp schicken
Siebeneinhalb Jahre lang hat Bünyamin Kara die Handyboxx betrieben. Geschäftsführer ist er nicht, auch wenn er so seine E-Mails unterschreibt; das ist seine Ex-Frau, auch nach der Scheidung vor zwei Jahren. Trotzdem liefen alle Verträge, die Kara in den vergangenen Jahren abgeschlossen hat, über seinen Namen.
Sie wurden über WhatsApp aktiviert, Kara ließ sich sensible Daten über den Nachrichtendienst schicken, Fotos von Personalausweisen und Bankkarten. Er kann sie alle auf seinem Handy zeigen, die tausenden WhatsApp-Chat-Verläufe mit seinen Kunden.
Vodafone-Sprecher Volker Petendorf sagt auf Nachfrage, dass Kara im Rahmen von Gesprächen erklärt habe, „auf Social-Media-Kanälen lediglich zu werben und den WhatsApp-Chat nur für die Terminvereinbarung und Austausch allgemeiner Informationen zu nutzen. Eine Vermarktung via WhatsApp-Chat wäre unzulässig und würde tatsächlich gegen Vodafone-Vorgaben und Datenschutz-Gesetze verstoßen.“
Vodafone: „Keine Auffälligkeiten hinsichtlich Vertragsunterlagen“
Bünyamin Kara sagt zudem, er habe die Verträge nie zur Archivierung an Vodafone geschickt, obwohl das vorgeschrieben sei. Es habe ihn auch keiner danach gefragt. Vodafone entgegnet, dass nach ihren Prüfkriterien „keine Auffälligkeiten hinsichtlich Vertragsunterlagen“ vorgelegen haben.
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Hinzu kommt: Bünyamin Kara sagt, er habe keine korrekten IMEI-Nummern gemeldet. Das Telekommunikationsgesetz (TKG) schreibt die Meldung von IMEI-Nummern an die Bundesnetzagentur vor, damit jedes Gerät identifizierbar ist. Weil er aber teilweise die Geräte nicht vorliegen hatte, wenn er den Vertrag abgeschlossen hat, habe er immer dieselbe Fake-Nummer gemeldet: zehnmal die 1, einmal die 9.
Dass Vodafone davon gewusst haben muss, legt eine Mail von Inan Koc vom September 2021 nahe, in der er an den Vodafone-Vorstand und mehrere Mitarbeiter schreibt: „Die erforderlichen Meldungen zu den IMEI Nr. der Geräte, welche bei Vertragsabschluss mit einer Geräteüberlassung verbunden sind, finden nicht statt.“
Volker Petendorf entgegnet, dass Vodafone nicht meldepflichtig sei, weil die Handyboxx als Fachhändler seine Geräte „frei“ am Markt beziehe. Allerdings schreibt Paragraf 172 des TKG die Meldung nicht durch den Shop-, sondern durch den Netzbetreiber an die Bundesnetzagentur vor. Der WAZ liegen Dokumente aus dem Vodafone-Aktivierungssystem vor, in denen die oben genannten falschen IMEI-Nummern angegeben wurden.
Handyboxx-Betreiber war einer der erfolgreichsten Vodafone-Händler Deutschlands
Bünyamin Kara galt als einer der erfolgreichsten Händler von Vodafone, drei Mal hintereinander wurde er als bester Händler Deutschlands ausgezeichnet, zahlreiche Urkunden für Top-Verkaufszahlen schmückten seinen Laden. Das Erfolgsrezept: Billige Angebote, die kaufmännisch eigentlich gar nicht kalkulierbar sind.
Ein Beispiel-Angebot aus dem Herbst 2022, das der WAZ vorliegt: Der Kunde soll ein iPhone 14 pro mit 128 Gigabyte bekommen, das zu diesem Zeitpunkt nicht für unter 1249 Euro brutto zu kaufen ist. Dazu wird ihm ein Vertrag mit 30 Gigabit Internet-Leistung angeboten. Das iPhone soll den Kunden einen Euro kosten, dazu zahlt er 59,98 Euro monatlich, zwei Jahre lang.
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Das Problem: Ein Tarif ist nicht angegeben, denn den gibt es eigentlich auch nicht zu diesem Preis. Eigentlich müsste das Handy 399 Euro kosten.
Ein anderes Beispiel: Der Kunde wählt einen Vertrag, der eigentlich 49,99 Euro kostet. Vodafone bucht aber nur 19,99 Euro ab. Wie der Konzern die Differenz kompensiert? Bünyamin Kara hat Vodafone monatlich Geld überwiesen, mal zehn, mal 15, mal 20, mal 30 Euro – je nach Kunde, je nach Vertragsvereinbarung.
Daueraufträge in Höhe von 34.393,42 Euro monatlich
Der WAZ liegt eine Excel-Tabelle vor, die belegt, dass Bünyamin Kara im Dezember 2022 1404 Daueraufträge aktiv hatte. 330 davon gingen an die Vodafone D2 GmbH, 82 an die Vodafone GmbH, 98 an Otelo, eine Tochter Vodafones – immer mit Name und Nummer der Kunden. Die restlichen Daueraufträge liefen direkt zugunsten der Kunden. Insgesamt überwies Kara so 34.393,42 Euro monatlich. Die Excel-Tabelle hat Bünyamin Kara am 31. Januar auch dem Vertriebsleiter von Vodafone geschickt.
Doch woher nahm Bünyamin Kara die 398 Euro, auf die er im ersten Beispiel von Kunden verzichtet? Woher nahm er die 34.393,42 Euro monatlich?
Die Antwort: Er ist über einen Zwischenhändler, der die Distribution für Vodafone übernimmt, mit viel Geld ausgestattet worden. Nicht nur mit hohen Provisionen, sondern auch mit Werbekostenzuschüssen, die zweckentfremdet wurden für die Finanzierung von Billig-Angeboten.
Handyboxx-Betreiber: 250.000 Euro Werbekostenzuschüsse in 2022
Der WAZ liegt eine Mail vom 2. November 2022 vor, in der Bünyamin Kara an den zuständigen Vertriebsleiter von Vodafone schreibt: „Kannst du einmal 412 x 20€ Wkz für Oktober zur Auszahlung freigeben und die 6000€ für Jubiläum.“ Bei seiner Jubiläumsaktion im vergangenen Jahr hatte Bünyamin Kara 412 Verträge abgeschlossen, nun soll er – neben der Provision – Werbekostenzuschüsse bekommen, um die Verträge gegenzufinanzieren. 8240 Euro plus 6000 Euro für das Jubiläum. Der Vodafone-Vertriebsleiter bestätigt am 3. November die Freigabe der Gelder: „Bitte die Anzahl der Aktivierungen kurz prüfen und dann bitte Auszahlung veranlassen.“
Der Bottroper Handyshop bekommt also auf einen Schlag 14.240 Euro Werbekostenzuschüsse, die allerdings gar nicht in die Finanzierung von Werbung gehen, sondern als Gegenfinanzierung für Billig-Verträge. Das weiß Vodafone, denn Kara bittet in seiner Mail eindeutig um Geld für die 412 abgeschlossenen Verträge. Insgesamt hat Bünyamin Kara über 250.000 Euro Werbekostenzuschüsse allein für das Jahr 2022 bekommen – die Nachweise darüber liegen der WAZ vor.
Vodafone hingegen sagt, Kara habe „für die Vermittlung von Dienstleistungsverträgen eine Abschlussprovision“ erhalten und lediglich für „den Zeitraum der Jubiläumsaktion einen zusätzlichen Vermarktungszuschuss“. Zudem habe die Handyboxx aufgrund einer Abmahnung von Seiten Vodafones ihr Geschäftsmodell im vergangenen Jahr abgewandelt. Der Redaktion liegen Nachweise über WKZ-Zahlungen bis Ende 2022 vor.
Handyboxx-Betreiber kann Handys nicht ausliefern und Daueraufträge nicht einhalten
Warum steckt Vodafone über einen Zwischenhändler soviel Geld in einen Handyshop? „Die Umsätze werden so künstlich erhöht. Und die Boni des Vorstandes messen sich an der Zahl der Neukunden“, sagt Inan Koc.
Die 412 Verträge sind es auch, über die der Handy-Shop-Betreiber letztlich stolpert. Im Zuge seiner Jubiläumsaktion zum siebenjährigen Bestehen habe er 200 Verträge in drei Tagen abgeschlossen. Der Vodafone-Vertriebsleiter und der Zwischenhändler hätten ihn angespornt, 400 zu machen – dabei waren nicht so viele Geräte verfügbar. „Ich habe 412 Verträge abgeschlossen, 380 mit Handys.“ Aber Bünyamin Kara bekommt nicht ausreichend Handys geliefert. Weil der Handyshop-Betreiber seine Geräte über einen Zwischenhändler bezieht, habe es seitens Vodafone auch keine Zusicherung über Gerätelieferungen gegeben, sagt dazu Petendorf.
Vodafone hat Stornos der Kunden nicht angenommen
Bünyamin Kara geht das Geld aus, es kommen nicht genug neue Verträge und Provisionen rein. Er kann die Daueraufträge nicht mehr bezahlen. 300 Kunden warten auf ihr Smartphone, über 1400 auf ihre monatlichen Gutschriften. Unterdessen versuchen die Kunden, die kein Geld mehr bekommen, die keine Geräte erhalten haben, bei Vodafone zu kündigen. Schließlich ist die Mobilfunkgesellschaft, nicht die Handyboxx, Vertragspartner. Aber Vodafone nimmt die Kündigungen nicht an. „Hallo Bünyamin, wie bereits besprochen, werden vorerst keine Stornos freigegeben“, heißt es in der Mail eines Vertriebsbeauftragten der Vodafone vom 11. Februar.
Kara zieht die Reißleine und schließt. „Das Insolvenzverfahren wird demnächst eröffnet“, sagt er. Und die Kunden zahlen weiter ohne Gegenleistung. Bei Inan Koc haben sich bereits dutzende gemeldet, die seine Hilfe suchen.
Auf die Frage, warum Vodafone keine Stornos entgegennimmt, antwortet das Unternehmen nicht. Es habe alle Reklamationen, die Handyboxx-Kunden in den vergangenen Wochen direkt an Vodafone gerichtet haben, „sehr kulant bearbeitet und in jedem Fall eine kundenindividuelle Lösung gefunden“.
Gerichtsurteile gegen Vodafone
Nach WAZ-Recherchen hatte Vodafone im Herbst 2021 zahlreiche Shops geschlossen. Der Mobilfunkkonzern warf einigen Shop-Betreibern „hohe kriminelle Energie“ vor. Es ging um Betrug mit untergeschobenen Verträgen im stationären Handel.
Das Unternehmen hatte sich als Opfer betrügerischer Handlungen dargestellt. Im vergangenen Jahr musste Vodafone allerdings mehrere Schlappen vor Gericht hinnehmen: Mehrere Urteilte legen die Vermutung nahe, dass Vodafone mit mangelhafter Software Betrügereien ermöglicht hat – und dies gewusst hat. In einem Urteil von Ende 2022 kommen die Richter zudem zu der Einschätzung, dass Vodafone für das Handeln der Partnershops verantwortlich ist.
Inan Koc bietet Betroffenen der Handyboxx-Schließung Unterstützung an, er bereitet gerade ein Musterschreiben vor. Kontakt: vfgate@outlook.de