Bottrop. Nur junge Leute teilen lustige Kurzvideos im Netz? Von wegen: Bottroper zeigen, wie digital und vergnügt es in einem Seniorenheim zugehen kann.
Wenn Sie sich einen TikTok-Star vorstellen, woran denken Sie dann? An einen jungen Menschen, der sich tanzend, singend, kommentierend, gestikulierend in kurzen Videos stylish ins Szene setzt? Nun, dann schieben Sie dieses Bild mal zur Seite. Denn gestatten: Hier ist Karin Kaprol, 73 Jahre alt, Seniorenheimbewohnerin aus Bottrop – und Star des Kanals „Krass Altenheim“. Das erste Altenheim auf dieser Social Media Plattform überhaupt, wie Recherchen des Betreibers Stella Vitalis nach eigenen Angaben ergeben haben. In dessen Seniorenzentrum Pflege Plus am Bottroper Ostring entstehen die amüsanten Clips. Und die TikTok-Gemeinde scheint sie zu lieben.
Die Idee, das Leben im Seniorenheim einmal auf andere Weise und ungewohnten Kanälen darzustellen, stammt aus dem Unternehmen Stella Vitalis, sagt Lisa Juchheim, Gesamtleiterin Sozialer Dienst in der Holding mit ihren insgesamt 18 Senioreneinrichtungen. „Wir wollen weg vom Stigma Altenheim, wollen der Gesellschaft zeigen, dass das soziale Leben hier bei uns nicht aufhört“, sagt Juchheim. Und damit auch den Pflege-Nachwuchs ansprechen.
Bottroper Seniorenheim auf TikTok: Für den Dreh sorgen junge Profis
Für die Umsetzung, das Einbringen von Dreh-Ideen, die Aufnahmen per Handy und die Bearbeitung für TikTok sorgen junge Profis einer von Stella Vitalis engagierten Agentur, die auch die Unternehmenshomepage betreue, erklärt Juchheim. Mit dem Team des Seniorenheimes am Ostring und freiwilligen Darstellerinnen und Darstellern aus den Reihen der Bewohner entstehen dann an monatlichen Aktionstagen jeweils neue Videos.
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(Fast) immer mittendrin: Karin Kaprol. Mit einem Augenzwinkern stellt sie, sonnenbebrillt, Dinge im Altenheim vor, „die einfach Sinn ergeben“: der Lieblingspfleger ist dabei, ein Chefsessel oder Rennautos vom Bobby-Car bis zum knallroten Ferrari. Andere Clips zeigen gerne – „für alle, die Angst haben, alt zu werden“ – tanzende Bewohnerinnen und Pflegepersonal. Das jüngste Video konzentriert sich auf die Mitarbeitenden, mit einem ordentlichen Schuss Ironie geht es dort um „Dinge, die ein Pfleger nie sagen würde“ wie: „Ob ich länger bleiben will? Klar, habe ja sonst nichts zu tun.“
„Natürlich sieht nicht jeder Tag hier so aus“, sagt Juchheim. „Wir sind uns bewusst, das wir damit spielen.“ Es geht nicht um die Darstellung der Realität, vielmehr um das Vermitteln des Gefühls: Mit dem Einzug in ein Seniorenheim müssen Spaß, gemeinsame Aktivitäten und persönliche Weiterentwicklung noch lange nicht aufhören.
Vor dem TikTok-Dreh geht manche extra zum Friseur
„Es zeigt zum Beispiel auch, dass man hier noch einmal neue Hobbys entdecken kann“, verdeutlicht Anne Sonnenschein, Leiterin der Sozialen Dienste im Haus am Ostring – und selbst „Krass Altenheim“-Darstellerin. Ihr Eindruck ist: Die gemeinsamen TikTok-Drehtage sorgen für neue Gesprächsthemen, stärken die Verbindung zwischen Bewohnern und Pflegepersonal. Und die betagten Schauspieler und Schauspielerinnen „blühen auf“. Manche gehe sogar extra vorher zum Friseur...
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Die Drehs eröffnen aktiven Seniorinnen wie Karin Kaprol neue Möglichkeiten – zuletzt durfte sie sich dafür in einen Ferrari und einen Porsche setzen, erzählt die 73-Jährige, die sich als Showtalent entpuppte. „Das macht Spaß!“ Sie kannte TikTok zuvor nicht, doch die Drehtage seien eine tolle Abwechslung im Haus. Und lassen die fröhliche Seniorin glatt zu einer kleinen Berühmtheit werden.
„Die, die das gesehen haben, sprechen mich darauf an“, erzählt Karin Kaprol. Als ehemalige langjährige Verkäuferin bei Woolworth – „fast 30 Jahre lang“ – ist sie in der Stadt einigen bekannt. Das alles macht die Bottroperin stolz. Als sie beim letzten Sommerfest einen TikTok-Award vom Unternehmen bekam, „habe ich fast geweint vor Freude“.
157.500 Menschen folgen dem Kanal „Krass Altenheim“
Vor vier Monaten ging „Krass Altenheim“ auf TikTok an den Start – jetzt zählt der Auftritt bereits 157.500 Follower und hat mehr als zwei Millionen Likes gesammelt. „Wir haben teilweise Videos, die sechs Millionen Menschen angesehen haben“, sagt Lisa Juchheim. Ein Erfolg, der alle Beteiligten total überrascht – „damit hätten wir nie gerechnet“. Weitere Einrichtungen der Stella-Vitalis-Gruppe sollen diesem Pilot-Beispiel jetzt folgen.
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Das Ziel, mit dem Auftritt neben den Familien der Seniorenheim-Gemeinde vor allem auch junge Leute zu erreichen, um Nachwuchs im Bereich der Pflege-Berufe zu gewinnen, scheint erreichbar. Eine erste Bewerberin fand über TikTok schon bis zum Vorstellungsgespräch. „Pflege ist anstrengend“, das will Lisa Juchheim nicht verhehlen. „Es gibt Personalmangel, es gibt schwierige Tage.“ Aber es gebe eben auch Spaß, gemeinsames Lachen, Leben und eine ganz besondere Verbindung zu den Menschen, die hier gepflegt werden.
Senioren auf digitalen Wegen
Wichtige Voraussetzung, auch aus Sicht von Pflegedienstleiter Marlon Evangelista, für die TikTok-Drehs im Seniorenheim am Ostring ist die Freiwilligkeit – und dass stets der Respekt gegenüber den Seniorinnen und Senioren gewahrt bleibt. Lisa Juchheim unterstreicht: „Wir würden niemals mit Personen drehen, die kognitiv eingeschränkt sind.“
Die Digitalisierung spielt aber letztlich auch in den Senioreneinrichtungen eine immer größere Rolle. Längst gibt es Bewohnerinnen und Bewohner, die ihr eigenes Laptop nutzen und gar einen Facebook-Account haben, erzählt das Pflegeteam vom Ostring.