Bochum. .

Trotz der kurzfristigen Absage von Recep Erdogan demonstrierten am Samstag 25.000 Menschen gegen die geplante Auszeichnung des türkischen Regierungschefs mit dem Steiger Award. „Alle Veranstaltungen verliefen friedlich“, lobt die Polizei. Es habe nur eine Anzeige und vier Platzverweise gegeben. „Das ist bei diesen Dimensionen zu vernachlässigen“, so Sprecher Axel Pütter.

22.000 Aleviten, bis zu 2000 Kurden sowie mehrere hundert Armenier, Assyrer, türkische Sozialdemokraten und Pro-Israel-Aktivisten: Die Ankündigung, dass Erdogan einen Preis für Toleranz und Menschlichkeit (Kategorie: „Europa“) entgegennehmen soll, löste die größte Demonstration der vergangenen Jahrzehnte in unserer Stadt aus.

Hunderte Reisebusse brachten Erdogan-Gegner aus ganz Deutschland und dem benachbarten Ausland nach Bochum. Meist erfuhren sie schon während der Fahrt, dass Erdogan seinen Besuch abgesagt hat. „Wir erhielten die Information am Freitag um 23 Uhr. Grund ist der Absturz eines türkischen Militärhubschraubers in Afghanistan, bei dem zwölf türkische Soldaten und fünf Zivilisten ums Leben kamen“, bedauerte Steiger-Macher Sascha Hellen.

Ohne Preisträger kein Preisredner: Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, der die Laudatio auf Erdogan halten sollte, verzichtete gleichfalls auf die Anreise. Weitere, hochkarätige Absagen gab es im Laufe des Tages von der erkrankten Rocklegende Lou Reed und Schriftsteller Henning Mankell, der laut Hellen in Afrika festsaß.

Kundgebungen verliefen ohne Zwischenfälle

Die Begründung für die Erdogan-Absage wertet die Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF) als fadenscheinig. „Das ist vorgeschoben. Der hat sich sehr wohl von den massiven Protesten beeindrucken lassen, die in hier erwartet hätten“, glaubt AABF-Generalsekretär Ali Dogan.

Die Kundgebungen verliefen zum Teil aufgeheizt, aber ohne Zwischenfälle. Die Polizei, die mit mehreren Hundertschaften im Einsatz war, hatte keine Mühe, die Demonstranten von der Jahrhunderthalle fernzuhalten. „Wer weiß, ob das auch bei einem Auftritt Erdogans gelungen wäre. Der Hass vieler Teilnehmer ist immens“, grübelte ein Polizeibeamter.

Während der Gala kamen die Massenkundgebungen kaum zur Sprache. OB Ottilie Scholz, die sich schon zuvor nicht zu den Protesten äußerte, rief zum Gedenken an die Opfer in Afghanistan auf und dankte Sascha Hellen: „Ich weiß, dass die letzten Tage für ihn nicht einfach waren.“

Erinnerung an Sivas-Massaker 

Der Name hat sich schmerzhaft in ihre Herzen eingebrannt: Sivas, eine Stadt in Ostanatolien. 1993 starben hier 35 alevitische Schriftsteller und Künstler bei einem Brandanschlag auf ein Hotel. Die Brandstifter sind auf freiem Fuß, geschützt und gedeckt (so glaubt die Religionsgemeinschaft) vom verhassten türkischen Regierungschef Erdogan, der die Einstellung des Verfahrens erst in der vergangenen Woche als „segensreiches Ereignis“ bezeichnet hat.

Die Aleviten, seit Jahrhunderten Opfer von Unterdrückung und Verfolgung, waren fassungslos. Ihr Zorn stieg ins Unermessliche, als sie erfuhren, dass Recep Erdogan am vergangenen Samstag mit dem Steiger Award bedacht werden sollte. Die Alevitische Gemeinde (AABF) mit Sitz in Köln, Dachverband von rund 500.000 Gläubigen in Deutschland, vollbrachte eine logistische Meisterleistung.

Binnen Tagen wurden eine Massenkundgebung in Bochum organisiert. Anfangs waren 20.000 Teilnehmer angekündigt; Ende letzter Woche wurde die Zahl auf 30.000 korrigiert. „Wir hätten am Ende wohl 40.000 Menschen auf die Beine gebracht, wenn Erdogan nicht abgesagt hätte. Noch am Samstagmorgen wurden etliche Fahrten gestrichen“, berichtet die AABF.

Die 22.000 Teilnehmer, die mit über 300 Bussen u.a. auch aus Österreich, der Schweiz, Frankreich und Belgien anreisten, bildeten am Samstag gleichwohl eine beeindruckende Kulisse. Die Stadt hatte für die Aleviten das Stadion an der Castroper Straße geöffnet. Transparente („We burned – You will burn in hell“) und T-Shirts („No racism – No Erdogan“) ließen ahnen, wie abgrundtief der Premierminister aus Ankara verachtet wird. Plakate mit Aufschriften wie „Hier werden Menschenrechte verSTEIGERt“ oder „Lieber Herr Schröder – Keine Preise an Mörder!“ dokumentierten, wie groß das Entsetzen der Aleviten ob der geplanten Preisverleihung ist.

Nach einer 90-minütigen Kundgebung im Stadion marschierten die Aleviten in einem nicht enden wollenden Protestzug zum Bergbaumuseum. Wütend. Aufgebracht. Aber friedlich, diszipliniert.

„Wir sagen Dank“, hieß es gestern auf der Internetseite der Aleviten, die sich bei der Polizei für deren „tatkräftige, zuverlässige und solidarische Unterstützung“ bedanken. Nur so habe die „überwältigende Demonstration realisiert werden“ können.

Kurden klagten mit Pappsärgen an 

Es sind die Kurden, die an diesem Samstag die mit Abstand zweitgrößte Demonstration auf die Beine stellen. Niyazi Öztas vom Vorstand der Organisation kurdischer Vereine in Deutschland (Yek-Kom) versteht nicht, wie es überhaupt dazu kommen konnte, Recep Erdogan für diesen Preis vorzuschlagen.

„Die Organisatoren des Steiger Awards scheinen ein interessantes Verständnis vom demokratischen Wandel zu haben. Wir Kurden können diesem Verständnis allerdings nicht folgen“, heißt es auf einem Flugblatt, das Öztas Passanten neben dem Demonstrationszug überreicht.

Mit gut zwei Dutzend schwarzen Pappsärgen und wütenden Plakaten und Sprechchören machen die kurdischen Demonstranten, darunter viele Frauen und Kinder in den kurdischen Farbein gelb-rot-grün, auf die Situation ihrer Landsleute in der Türkei aufmerksam.

Immer wieder schildern die Demonstranten, dass es allein seit 2009 rund 6500 politische Gefangene in der Türkei gebe. Darunter, so die Kurden, befänden sich sechs Parlamentsabgeordnete, 17 Bürgermeister, Hunderte Gewerkschafter und mehr als 100 Frauenrechtlerinnen.

Der Demonstrationszug kommt der Jahrhunderthalle am nächsten von allen Demonstranten. Dessen ist sich auch die Polizei bewusst. Mit einem Absperrgürtel aus Stoßstange an Stoßstange stehenden Mannschaftswagen wird der Weg die Allestraße entlang blockiert. Zwar hält die Demonstration kurz an. Doch die Bereitschaftspolizisten müssen nicht eingreifen. Nach wenigen Minuten geht es weiter.

Vor der Christuskirche am Platz des europäischen Versprechen haben sich Vertreter der türkischen Sozialdemokraten in Deutschland – nach eigenen Angaben haben sie hierzulande mehr als 4000 Mitglieder – versammelt. Es sind nur wenige gekommen, doch ihr Vorsitzender Ismail Eren sagt: „Wir sind tief enttäuscht, dass jemand wie Erdogan diesen Preis bekommen sollte.“ Da Erdogan abgesagt hat, seien nur wenige türkische Sozialdemokraten nach Bochum gekommen.