Bochum. .
Die 21-jährige Lisa Garstka macht in den Behinderten-Werkstätten „Gottessegen“ ein freiwilliges soziales Jahr. Dort sammelt sie Erfahrungen für einen späteren Beruf. Die WAZ hat ihr bei der Arbeit dort zugeschaut.
Jemand spielt Mundharmonika. Zwei Pärchen stehen in der Sonne – eng umschlungen. Lassen sich nicht stören von den Blicken der anderen, die in Grüppchen zusammenstehen, sich unterhalten und die Frühlingssonne genießen. Es ist Mittagspause in den Werkstätten Gottessegen in Bochum – einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung.
Von Behinderten spricht hier trotzdem keiner. Sie alle sind hier ganz einfach „Beschäftigte“. Sie arbeiten in der Holzwerkstatt, der Wachsgießerei, der Gartengruppe, der Küche, der Kaffeerösterei. Zwischen den Beschäftigten steht Lisa Garstka – auch sie genießt die Sonne. Die 21-Jährige macht ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in den Werkstätten. Dass sie dort gelandet ist, war eher ein Zufall. „Vorher war ich nicht sicher, was ich später machen möchte“, sagt sie. Etwas mehr als ein halbes Jahr macht sie das FSJ jetzt schon. Und inzwischen ist ihr klar, dass sie anschließend die Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin machen möchte oder ein Sonderpädagogikstudium. Auf dem Bewerbungsbogen für die Internationalen Jugendgemeinschaftsdienste (IJGD) – einer Organisation, die Freiwilligendienste vermittelt, hatte sie ein paar kleine Kreuzchen gemacht, bei den Bereichen, die sie sich vorstellen konnte. Der Vorschlag für den Einsatzort kam dann von den IJGD. Lisa – in den Werkstätten duzen sich alle, weil das Du persönlicher ist – wollte zu Hause, in Wanne-Eickel, wohnen bleiben. Da haben sich die Werkstätten angeboten.
„Wir sollen den Aufzug nur nehmen, um Sachen zu transportieren - um ein Vorbild zu sein“
13 Uhr: Pause vorbei. In der Umkleide bindet Lisa die rote Schürze wieder um und setzt die rote Schirmmütze auf, die sie nicht so gern trägt. Aber wie in jeder Küche gibt es auch hier Hygiene-Vorschriften, die eingehalten werden müssen. Und auch wenn Lisa die Kleidung nicht mag, sie steht der jungen Frau gut. Ihre helle Haut, das dunkelbraune Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat, zusammen mit dem Rot von Schürze und Schirmmütze, lässt Kindheitserinnerungen wach werden. Erinnerungen an eine junge Frau, die die Hausarbeit für andere erledigt: Schneewittchen.
Kaum umgezogen, läuft Lisa schon wieder die Treppe hoch, in den zweiten Stock. „Wir sollen den Aufzug nur nehmen, um Sachen zu transportieren – einfach um ein gutes Vorbild zu sein“, erklärt sie im Gehen. Im oberen Speisesaal warten zwei Servierwagen voller dreckigem Geschirr auf sie. Geschickt manövriert die 21-Jährige die schweren silbernen Speisewagen in den Fahrstuhl und dann wieder hinaus. Im Flur rufen ihr zwei Männer aus einer anderen Gruppe aufgeregt entgegen. Neben ihnen, auf dem Fußboden, sitzt eine Frau. Sie hat die Stirn gegen die Wand gedrückt und weint hemmungslos. Lisa kniet sich neben die Frau, die mindestens zehn Jahre älter ist als sie selbst, fragt, was passiert ist. Hört zu. Spricht ein paar Sätze mit ihr. Wirklich helfen kann sie nicht. Die Frau ist traurig, weil ihr Freund Schluss gemacht hat. Die meisten würden wohl versuchen, ihren Liebeskummer vor Kollegen zu verbergen. Im Haus Gottessegen ist das anders. Emotionen, positive als auch negative, gehören dort zum Alltag.
„Das Beste an meinem Freiwilligendienst ist der persönliche Umgang mit den Beschäftigten“
Lisa wendet sich wieder den Servierwagen zu, die verwaist in der Mitte des Flures stehen. Da tritt Gruppenleiterin Gabriele Glittenberg aus der Schwingtür der Küche. „Meine Spülmaschine streikt“, sagt die Heilerziehungspflegerin. Ausgerechnet jetzt. Das dreckige Geschirr stapelt sich. Zum Glück sind heute die Elektriker da. Einer stellt ein bisschen an der Maschine herum bis sie wieder läuft. Sofort bricht hektische Betriebsamkeit aus. Jetzt kann die liegen gebliebene Arbeit erledigt werden. Jeder in der Gruppe hat seine Aufgabe. Eine Beschäftigte spült vor. Zwei andere trocknen das Besteck ab. Lisa räumt die Geschirrberge in Plastikkästen ein, die aufgereiht vor der Haubenspülmaschine stehen. Zwischendurch zieht sie die Haube der Maschine hoch – Dampf kommt ihr entgegen – , sie schiebt den Plastikkasten mit dem sauberen, aber tropfnassen Geschirr heraus, schiebt die nächste Ladung in die Maschine, stellt sie wieder an. Nebenbei erklärt sie einer jungen Frau, die Geschirr abtrocknet, warum es nicht gut ist, das Handtuch auf der nassen Fläche abzulegen. Eine Antwort oder Nachfrage erwartet Lisa nicht, denn die Beschäftigte kann nicht sprechen. Trotzdem versteht sie sehr gut, was Lisa ihr sagt. Sie nimmt das frische Handtuch entgegen, das Lisa ihr reicht, und trocknet weiter ab.
Lisa arbeitet schnell und hat trotzdem ein Auge für das, was um sie herum geschieht. Sie bewegt sich auf sicherem Terrain, obwohl sie vor ihrem FSJ keine Erfahrungen im sozialen Bereich hatte. „Am ersten Tag war ich schon ein bisschen unsicher, wie ich mit den Leuten umgehen soll, aber das hat sich schnell gelegt“, erzählt sie. „Das Beste an meinem Freiwilligendienst ist der persönliche Umgang mit den Beschäftigten – zum Beispiel in den Hofpausen“, sagt sie und betont: „Ich finde es wichtig, dass man sie nicht abstempelt, weil sie eine Behinderung haben. Das Leben ist ein bisschen schwerer für sie, aber sie machen das Beste daraus.“
Vielfältiges Angebot an Freiwilligendiensten
Es gibt in Deutschland ein vielfältiges Angebot an Freiwilligendiensten. Einer davon ist das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ). Es bietet jungen Menschen zwischen 16 und 27 Jahren Gelegenheit, sich für die Gesellschaft zu engagieren. Aber es kann auch bei der beruflichen Orientierung helfen. Das FSJ dauert normalerweise 12 Monate.