Bochum. So gehe es nicht mehr weiter, sagt Maren Haiges. Die Hausärztin in Hiltrop sorgt sich um unser Gesundheitssystem. Ihre Diagnose ist verheerend.

Maren Haiges liebt ihren Beruf – und denkt doch ans Aufgeben. „Bis zur Rente werde ich diesen Job so nicht machen können“, schreibt die 44-jährige Hausärztin in einem Brandbrief an die WAZ. Ebenso hilflos wie wütend zeigt sich die Bochumerin ob des desolaten Zustandes des Gesundheitssystems. Das gehe zulasten der Ärztinnen und Ärzte, vor allem aber der Patientinnen und Patienten. Und: Es könnte alles noch schlimmer werden.

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Alteingesessen ist die Hausarztpraxis am Bussmansfeld in Hiltrop. Es gibt sie seit mehr als 50 Jahren. Maren Haiges übernahm sie im Juli 2022 von Dr. Bettina Müller und Werner Hassels. Mit einer angestellten Ärztin und fünf Mitarbeiterinnen versorgt die Fachärztin für Allgemeinmedizin, Anästhesie und Psychotherapie pro Quartal rund 1200 Patienten.

„Frisch und motiviert“ habe sie ihre erste Niederlassung angetreten. Nach knapp zwei Jahren stehe sie „vor einem Gesundheitssystem, in dem es an allen Ecken brennt und das in sich zusammenbricht“, konstatiert die Mutter einer fünfjährigen Tochter, die längst an ihre eigene Belastungsgrenze gestoßen ist. Ihre Diagnose fällt verheerend aus.

Hausärzte in Not: Wartezeit für regulären Termin liegt bei sechs Wochen

Der Hausärzte-Mangel zeige bereits massive Folgen. Immer mehr Kolleginnen und Kollegen gingen in Rente, Nachfolger würden nicht gefunden. Die Zahl ihrer Patienten steige. „Für reguläre Termine beträgt die Wartezeit bei mir inzwischen sechs Wochen“, sagt Maren Haiges. Zwar hält sie Akut-Behandlungen aufrecht, bei Erkrankungen oder Klinik-Entlassungen. Auf Aushängen in der Praxis wird aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dabei wegen der „angespannten Situation“ nur die jeweils akute Krankheit behandelt und besprochen werden kann. Alles andere muss warten.

In ihrer Praxis in Hiltrop (hier die Medizinische Fachangestellte Anna Hoppe) fehle vielen Patienten das Verständnis für die aktuellen Probleme bei der Gesundheitsversorgung, sagt Hausärztin Maren Haiges.
In ihrer Praxis in Hiltrop (hier die Medizinische Fachangestellte Anna Hoppe) fehle vielen Patienten das Verständnis für die aktuellen Probleme bei der Gesundheitsversorgung, sagt Hausärztin Maren Haiges. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Kein Sauerstoffgerät: Patientin kann fünf Wochen die Wohnung nicht verlassen

Der Hausarzt solle zwar als Lotse fungieren. Doch oft sei kein Land in Sicht. „Kliniken weisen Patienten ab, die ich dort eingewiesen habe. Das ist kein Einzelfall mehr.“ Termine bei Fachärzten seien gar nicht oder nur nach langer Wartezeit zu ergattern. Maren Haiges schildert exemplarisch das Schicksal einer Patientin mit einem schweren Lungenleiden. Für ein transportables Sauerstoffgerät habe es der Verordnung eines Lungenfacharztes bedurft. „Dort war trotz intensiver Bemühungen kein Termin zu bekommen. Die Patientin musste deshalb fünf Wochen zu Hause bleiben, wo ein stationäres Gerät vorhanden ist.“

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Engpässe bei Medikamenten: 45 Euro für ein lebenswichtiges Antibiotikum

Gravierend seien auch die Engpässe bei Medikamenten. Die Kolleginnen telefonierten sich täglich die Finger wund, um Apotheken zu finden, die die notwendigen Arzneien auf Lager haben. Meist vergeblich. Auch hier hat Maren Haiges ein Beispiel parat. Eine Patientin mit einer Darmentzündung ist auf ein Antibiotikum angewiesen. Das ist aktuell nicht lieferbar. „Es gibt zwar ein gleichwertiges Mittel, das in diesem Zusammenhang jedoch nicht auf Kassenkosten hätte verordnet werden dürfen“, so Haiges. Heißt: „Die Patientin sollte 45 Euro selbst bezahlen, um eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung zu behandeln.“

Die Reaktionen in ihrer Praxis fallen entsprechend negativ aus. „Die Patienten waren jahrzehntelang an eine gute Gesundheitsversorgung gewöhnt. Vielen fehlt jetzt das Verständnis für die Nöte und Zwänge, unter denen wir Hausärzte arbeiten müssen“, erklärt Maren Haiges. Vor ihr stünden weinende Patienten und Angehörige. Dabei ist auch die Ärztin nicht selten den Tränen nahe.

Einen „bisher einzigartigen Aderlass“ bei den Haus- und Fachärzten in Bochum prognostiziert der Bochumer Bezirksleiter der Kassenärztlichen Vereinigung, Dr. Eckhard Kampe.
Einen „bisher einzigartigen Aderlass“ bei den Haus- und Fachärzten in Bochum prognostiziert der Bochumer Bezirksleiter der Kassenärztlichen Vereinigung, Dr. Eckhard Kampe. © FUNKE Foto Services | Dietmar Wäsche

Auch die Apotheken warnen vor zunehmenden Lieferengpässen

Aufwecken wolle sie die Verantwortlichen in der Politik, bei der Ärztekammer, bei der Kassenärztlichen Vereinigung, bekräftigt die Medizinerin. Eindringlich warnt sie davor, dass die hausärztliche Versorgung nicht nur in den Bochumer Randgebieten in höchster Gefahr sei. „Die verschiedenen Systeme greifen nicht mehr ineinander. Man hat vielmehr das Gefühl, alle arbeiten gegeneinander.“

In Bochum wird der Alarmruf gehört. Apothekensprecherin Dr. Inka Krude und ihre Kollegen und Kollegen warnen seit Langem davor, dass sich die Lieferprobleme bei Medikamenten weiter zuspitzen. Betroffen seien unter anderem Medikamente gegen Bluthochdruck sowie Schilddrüsen-Präparate. Krude: „Unvorstellbar, dass so etwas in Deutschland passiert.“

Vor einer weiteren Zuspitzung der Lieferengpässe bei Medikamenten warnt die Bochumer Apothekensprecherin Dr. Inka Krude (re.).
Vor einer weiteren Zuspitzung der Lieferengpässe bei Medikamenten warnt die Bochumer Apothekensprecherin Dr. Inka Krude (re.). © FUNKE Foto Services | Dietmar Wäsche

40 Prozent der Bochumer Hausärzte gehen bis zum Jahr 2028 in Rente

Bei den niedergelassenen Ärzten spricht Dr. Eckhard Kampe, Bezirksleiter der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), von einem „bislang einzigartigen Aderlass“. 1005 Ärztinnen und Ärzte praktizieren in Bochumer Praxen, davon 223 Hausärzte. Nach Berechnungen des KV-Chefs werden 40 Prozent bis 2028 aus Altersgründen ausscheiden. Dabei sei es jetzt schon schwierig, Nachfolger zu finden. Besonders betroffen sind Hausärzte. Die Entwicklung bereite aber auch bei den Fachärzten Sorge, so Kampe.

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Maren Haiges ist wenig optimistisch, dass sich daran etwas ändert. Strukturelle Probleme, Stress, finanzielles Risiko, ausufernde Bürokratie: Sie habe selbst erlebt, was es heißt, sich als Hausärztin selbstständig zu machen. Zweifelhaft, ob sich unter diesen Rahmenbedingungen ausreichend junge Ärztinnen und Ärzte für eine Niederlassung finden. „Das ist eine Gefahr“, sagt die Hausärztin. „Eine Gefahr, die uns alle angeht.“