Bochum. Die Flucht aus Guinea hätte ihn fast getötet: Jetzt ist Ibrahim in Bochum, spricht Deutsch, hat einen Job – und ist dankbar für sein neues Leben.

Es ist schon eine Weile her, seit Michael Ballack zuletzt im Trikot der deutschen Nationalmannschaft auflief. Für Ibrahim wird dieses Bild dennoch unvergessen bleiben: „Ich wollte Fußballprofi werden, genau wie Ballack“, erzählt er und strahlt. „Mit der Rückennummer 13!“ Dafür nahm der junge Mann aus Guinea ein Martyrium auf sich, das mehrere Jahre dauerte und ihn um ein Haar sein Leben gekostet hätte. Heute lebt er in Bochum – und kann sein Glück kaum fassen.

Ibrahim (23) aus Bochum hatte einen großen Traum: ein Leben in Deutschland

Vor fast 24 Jahren kam Ibrahim in Conakry, der Hauptstadt Guineas, zur Welt. Nach der siebten Klasse musste er die Schule verlassen, weil seine Familie das nicht mehr bezahlen konnte. „Ohne Geld keine Bildung, so einfach ist das“, sagt er. Schwierige Familienverhältnisse und ein zerrüttetes Verhältnis zu seinem Vater ließen in dem Jungen einen Plan wachsen: Er wollte von zu Hause weg, am liebsten nach Deutschland, um hier studieren und Fußball spielen zu können. „Die Spiele von Borussia Dortmund und Bayern liefen immer bei uns im Fernsehen“, erzählt er. „Das war mein Traum, da wollte ich hin.“

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Mitte 2012 machte sich Ibrahim auf den Weg

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Ibrahim war zwölf, als er sich Mitte 2012 auf den Weg in eine bessere Zukunft machte. „Ich wusste, ich kann etwas ändern“, sagt er. Er schloss sich einer Gruppe von Flüchtlingen an und fuhr erst mit dem Auto, später mit dem Bus in Richtung Mali. „Es gab viele Leute, die nach Europa wollten, und einige sind dabei gestorben“, sagt er. In einem Flüchtlingstreck sei er von Mali nach Algerien wochenlang durch die Wüste gelaufen: „Wir hatten nicht viel Wasser, und es war wahnsinnig heiß. Dabei sind viele ums Leben gekommen, auch Freunde von mir.“

Mittelfeldspieler Michael Ballack (hier bei der Euro 2008) war das große Vorbild von Ibrahim. Im fernen Guinea verfolgte er jedes Spiel des „Capitano“ und wollte so werden wie er.
Mittelfeldspieler Michael Ballack (hier bei der Euro 2008) war das große Vorbild von Ibrahim. Im fernen Guinea verfolgte er jedes Spiel des „Capitano“ und wollte so werden wie er. © picture-alliance/ dpa | epa Georg Hochmuth

Ein schier grenzenloser Optimismus sei es gewesen, der Ibrahim all dies habe überstehen lassen. „Ich denke immer positiv, und ich wusste, dass ich das irgendwie schaffen werde“, sagt er. Mit dem Bus gelangte Ibrahim schließlich in die algerische Hauptstadt Algier, wo er knapp ein Jahr verbrachte, um Geld zu verdienen. „Ich hatte ja nichts dabei, also habe ich dort in der Landwirtschaft gearbeitet, Tomaten und Obst gepflückt.“ Von seinem Lohn habe er so viel wie möglich beiseitegelegt, denn er wusste: Die Fahrt mit einem Boot nach Europa ist teuer. „500 Euro sollte es kosten, die ich natürlich nicht hatte.“

Fotoausstellung in der Ko-Fabrik

Die Fotoausstellung „Let‘s talk about discrimination“ wird am Sonntag, 4. Februar, von 15 bis 20 Uhr in der Ko-Fabrik, Stühmeyerstraße 22, eröffnet. Die Bochumer Fotografin Özlem Öztürk-Gerkensmeier zeigt darin 24 Menschen, die unterschiedliche Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht haben.

Zur Ausstellungseröffnung sind neben der Fotografin auch ein Großteil der Porträtierten anwesend: „Wir wollen miteinander reden und einander zuhören“, sagt Öztürk-Gerkensmeier. Nach der Eröffnung ist die Fotoausstellung bis 9. Februar täglich (9 bis 13 Uhr) in der Ko-Fabrik zu sehen (außer bei Veranstaltungen) und soll danach weiter durch Bochum wandern.

Außerdem sei die Überfahrt von Algerien aus gefährlich und der Hass gegen Migranten dort groß. Ibrahim nahm den Umweg über Libyen in Kauf, wo er festgenommen wurde und drei Monate im Gefängnis verbrachte. „Viele wurden dort gefoltert, manche sind daran gestorben.“ Auch Ibrahim habe die Gewalt dort am eigenen Leib erlebt: Nach Schlägen ins Gesicht konnte er nur verschwommen sehen. „Deswegen trage ich heute eine Brille.“

Schreiende Frauen und Kinder waren plötzlich im Meer verschwunden. Sie waren einfach weg. Das vergesse ich nie.
Ibrahim über seine Flucht über das Mittelmeer

Mitten in der Nacht schaffte es Ibrahim mit einigen Gefährten, durch eine kaputte Tür aus dem Gefängnis zu fliehen. „Wir sind gelaufen und gelaufen, manche, bis sie nicht mehr konnten.“ Ihr Ziel: die libysche Hafenstadt Sabrata, wo Ibrahim einige Zeit später mit 123 Flüchtlingen in ein viel zu kleines Boot stieg. „Das Boot war kaputt, was wir zunächst aber nicht bemerkten“, erzählt. Um drei Uhr in der Früh begann die Höllenfahrt. Die Schlepper hätten das Geld kassiert, seien selbst aber nicht an Bord gewesen: „Man bekommt von denen nur einen Kompass und die Richtung: Immer geradeaus nach Norden.“

Nach einer lebensgefährlichen Odyssee übers Mittelmeer wurde Ibrahim von der Seenotrettung an Bord genommen. Hier ein Symbolbild.
Nach einer lebensgefährlichen Odyssee übers Mittelmeer wurde Ibrahim von der Seenotrettung an Bord genommen. Hier ein Symbolbild. © picture alliance/dpa/AP | Renata Brito

Als immer mehr Wasser ins Boot lief, sei an Bord Panik ausgebrochen. Zurück nach Libyen zu fahren, sei mitten auf dem Meer bei rauer See keine Option gewesen. Ibrahim versuchte, so gut es geht die Ruhe zu bewahren: „Ich wusste von Anfang an, dass es schwer werden würde, aber ich wollte kämpfen, um es zu schaffen.“ Sein großes Glück: Er konnte sich an Bord eine Rettungsweste sichern. Es seien unvorstellbare Szenen gewesen, die sich dort abspielten: „Schreiende Frauen und Kinder waren plötzlich im Meer verschwunden. Sie waren einfach weg. Das vergesse ich nie.“

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Hass auf Migranten begegnet Ibrahim überall

Von den Bootsinsassen seien an diesem Tag im Mittelmeer etwa 100 gestorben. Die übrigen seien spät am Abend von einem Schiff der Seenotrettung aus dem Meer gefischt und nach Malta gebracht worden, darunter auch Ibrahim. Für ihn ging die Reise dann weiter nach Italien: „Ich dachte wirklich, dass ich dort in Sicherheit bin, aber das Gegenteil war der Fall“, sagt er. Der Hass gegen Migranten, den er vorher bereits in Algerien erlebt hatte, sei hier ganz offen zutage getreten. „Man wird auf der Straße bespuckt und beschimpft, es war schlimm.“

Ibrahim lernte fleißig Deutsch: in der Schule und auf Youtube

Als minderjähriger Flüchtling ohne Pass und Papiere sei er dann von der Polizei aufgegriffen und schließlich in einen Zug nach Mailand gesetzt worden, dann weiter nach Bern. Dort hatte Ibrahim, der mittlerweile 16 Jahre alt war, etwas Glück: „Ich habe dort jemanden getroffen, der unheimlich nett zur mir war. Er hat mir ein Busticket nach Deutschland bezahlt.“ Als er Ende 2016 am Dortmunder Hauptbahnhof aus dem Bus stieg, konnte er sein Glück kaum glauben. „Das ist die Stadt des BVB! Da wollte ich immer hin, und plötzlich war ich da.“

In der Quartiershalle der Ko-Fabrik an der Stühmeyerstraße 33 wird am Sonntag, 4. Februar, um 15 Uhr die Fotoausstellung „Let‘s talk about discrimination“ eröffnet. Darin ist auch ein Bild von Ibrahim zu finden.
In der Quartiershalle der Ko-Fabrik an der Stühmeyerstraße 33 wird am Sonntag, 4. Februar, um 15 Uhr die Fotoausstellung „Let‘s talk about discrimination“ eröffnet. Darin ist auch ein Bild von Ibrahim zu finden. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Ibrahim verbrachte die nächste Zeit in einer Flüchtlingsunterkunft in Hamme, dann in einer Wohngruppe der IFAK. Er machte seinen Schulabschluss und lernte fleißig Deutsch, das er heute super spricht. Denn die Chance, im Ruhrgebiet ein neues Leben zu beginnen, wollte er unbedingt nutzen: „Früh morgens vor der Schule habe ich schon Deutschkurse auf Youtube geschaut“, erzählt er. Mittlerweile hat er sogar einen Führerschein, wohnt in einer eigenen Wohnung und hat einen festen Job als Sachbearbeiter bei der IKAF. Nur eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung hat er noch nicht: „Der Antrag ist aber gestellt, das dauert wohl eine Weile.“

Heute spielt Ibrahim im Mittelfeld, wie einst Michael Ballack

Die schrecklichen Erlebnisse während seiner Flucht verfolgen Ibrahim bis heute: „Ich hatte lange Schlafstörungen, weil ich die Bilder von den sterbenden Menschen immer wieder gesehen habe“, erzählt er. Erst eine Therapie habe ihm geholfen, all dies zu verarbeiten. Mit Freunden, die einen ähnlichen Weg hinter sich haben wie er, steht Ibrahim in gutem Kontakt. Auch zu seiner Familie in Guinea gebe es mittlerweile kleinere Kontakte.

Täglicher Rassismus

Beleidigungen und dumme Sprüche erlebt Ibrahim beinahe täglich: „Schimpfwörter in der Straßenbahn, unhöfliche Kassiererinnen im Supermarkt, Anfeindungen während eines Fußballspiels: Das kommt häufig vor“, meint er.

Doch Ibrahim hat lernen müssen, mit diesem täglichen Rassismus zu leben und den Konflikten nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen: „Man muss diese Situationen vermeiden“, sagt er. „Abends alleine ins Bermudadreieck gehe ich nicht so gern.“

Und der Fußball? Für eine Profikarriere hat es bei Ibrahim nicht gereicht, dafür spielt er ziemlich erfolgreich in der Herrenmannschaft des VfB Günnigfeld in der Kreisliga A – natürlich im Mittelfeld, wie einst Michael Ballack. Im Westfalenstadion des BVB war er noch nie: „Da kommt man ja nie an Karten.“ Dafür war er schon häufiger beim VfL – und freut sich jeden Tag über sein neues Leben und die zweite Chance, die ihm gegeben wurde: „Man darf sich nicht auf die Vergangenheit konzentrieren“, meint Ibrahim. „Die Zukunft ist viel wichtiger.“