Bochum. Die schlimmste Zeit hatten die Menschen in Bochum am Jahresende 1923 hinter sich, als Weihnachten nahte. Der Blick zurück erinnert an viel Leid.
Weihnachtszeit vor 100 Jahren: Beinahe ein Jahr stand Bochum unter französischer Besatzung, als Heiligabend 1923 die schlimmsten Beschränkungen für das öffentliche Leben in Bochum fielen. Hintergrund: Die Ruhrgebietsstädte hatten ihren passiven Widerstand aufgegeben. Das Ende eines bedrückenden Jahres wollten die Menschen in der Stadt wieder feiern. Etwa im Weinhaus „Uhu“.
Dort traf man sich am 1. und 2. Feiertag, jeweils von 12 bis 15 Uhr, zu Weihnachtsfeiern bei vorzüglicher Küche und guten Weinen. Im Ausschank gab es Original Pschorr-Bräu. So jedenfalls warb eine zeitgenössische Anzeige. Das wiedererwachende Leben spiegelte sich wider in den Festtagsausgaben des Bochumer Anzeigers, der größten Tageszeitung und unmittelbarem Vorgänger der WAZ.
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Doch zunächst der Blick auf den 15. Januar 1923. Die Stadt Essen war bereits am 11. Januar besetzt worden. In Bochum rückten die Franzosen über die Essener Chaussee, heute Essener Straße/Alleestraße, ein. Paul Küppers (1858 – 1936) hat die Stimmung dieses Tages in seinem 1930 erschienenen Bändchen „Bochum unter fremder Gewalt“ im nationalen Tonfall der Zeit beschrieben. Paul Küppers war Redakteur des „Märkischen Sprechers“ und ein genauer Beobachter der Bochumer Lokalgeschichte.
Der 15. Januar 1923: Ein Schicksalstag für Bochum
„So kam der 15. Januar heran: ein Schicksalstag für Bochum. Trübe Nebelschleier hüllten die Stadt ein. Es war schon gemeldet, daß Truppen in weitem Bogen um Bochum standen und daß seit 9 Uhr morgens Infanterie, Kavallerie, ein Tankgeschwader und Radfahrer an der Zeche Engelsburg hielten. Punkt 11 Uhr heulten die Dampfsirenen des ‚Bochumer Vereins‘ und der andren Werke. Die Dampfhämmer, Maschinen usw. in den großen Fabrikhallen stellten ihre Tätigkeit ein, die Straßenbahnen standen still und die Fußgänger hielten ihre Schritte an. Ein schweigender und doch deutlicher Protest.“
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Doch so still blieb der Tag nicht. Die französische Armee besetzte die Stadt aus mehreren Richtungen kommend. Vom Süden rückten ebenfalls französische Verbände vor. Vielfach führten die Soldaten ihr aufgepflanztes Bajonett mit. Wichtige Gebäude der Stadt, wie der Haupt- und Nordbahnhof, das Post- und Telegrafenamt und das Gebäude des Benzolverbands (woraus später Aral hervorging) wurden besetzt.
Am ehemaligen Eisenbahnbetriebsamt an der Königsallee 47, das Gebäude ist erhalten, bildete sich eine Menschenansammlung. Schon vorher waren die Bochumerinnen und Bochumer in der Stadt zusammengelaufen, am Rathaus etwa.
Maschinengewehrsalve: 15-jähriger Lehrling stirbt
Doch es war das Eisenbahnbetriebsamt, wo es zur Katastrophe kam, mit dem ersten Toten der Ruhrbesetzung überhaupt. Von der Situation völlig überforderte Soldaten feuerten mit einem Maschinengewehr in die Menge. Tödlich verletzt wurde dabei der Schlosserlehrling Joseph Birwe. Der an der Demonstration nicht beteiligte 15-jährige Jugendliche erlag seinen Verletzungen, zwei weiterer Unbeteiligte, eine Frau und ein Mann erlitten schwere Schussverletzungen.
Dabei hatte Polizeidirektor Karl Stühmeyer noch am selben Tag appelliert: „Heute Vormittag sind die ersten Besatzungstruppen in unsere Stadt eingerückt. Ich wende mich vertrauensvoll an unsere Einwohnerschaft mit der dringenden Bitte, sich ruhig und würdig zu verhalten, keinen Anlaß zu unliebsamen Zwischenfällen zu geben, die in ihrer Auswirkung der Bevölkerung erhebliche Nachteile und dem Staate selbst großen Schaden zufügen könnten.“
Das jugendliche Opfer sollte wenige Tage später, am 19. Januar, unter großer Beteiligung von Trauernden und Offiziellen der Stadtgesellschaft auf dem Wiemelhausener Friedhof bestattet werden. Die Franzosen hatten offenbar einen Aufruhr verhindern wollen und die Familie, pietätlos, aber vergeblich gebeten, ob die Beerdigung nicht auch nachts stattfinden könne.
Insgesamt wurden schließlich rund 3500 Mannschaften und Unteroffiziere der französischen Armee, 300 Offiziere sowie 120 Verwaltungsfachleute und andere alliierte Kontrollbehörden in Bochum untergebracht. Die Soldaten lebten in beschlagnahmten öffentlichen Gebäuden. Dazu gehörten etwa das ehemalige staatliche Gymnasium (Ostring), die Drusenbergschule (komplett erhalten) und verschiedenste Schulgebäude und andere öffentliche Liegenschaften.
Später sollten sich Gewalt-Vorkommnisse jedoch im Ruhrgebiet wiederholen. Das sicher bekannteste Ereignis dieser Art, sind die sogenannten Karsamstagstoten in Essen. Als französische Soldaten Lastwagen von Krupp beschlagnahmen wollten, und die Arbeiter protestierten. Es vielen Schüsse, 13 Krupp-Arbeiter kamen ums Leben.
Neun Menschen kamen allein in Bochum ums Leben
Insgesamt neun Menschen, allesamt im Jahr 1923, kamen in Bochum während der Ruhrbesetzung ums Leben. Nicht immer waren es Schüsse. Am 11. März 1923 wurde die 13-jährige Schülerin Franziska Boroczinsky von einem Auto der Besatzungsarmee überfahren und dabei tödlich verletzt. Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich am 1. Juni 1923. Die Bürogehilfin Edith Wienicke wurde an der Ecke Kortumstraße/Bongardstraße (Drehscheibe) von einem Lastauto der Franzosen überfahren und getötet. Die junge Frau war gerade 22 Jahre alt. Auch Opfer von Unfällen wurden also auf das „Konto“ der Besatzungsarmee genommen.
Die Besetzung des Ruhrgebiets und damit auch Bochums sollte bis zum 20. Juli 1925 dauern. Bereits Anfang 1925 hatte Frankreich damit begonnen, einen Teil der Soldaten wieder abzuziehen. An einer sogenannten Befreiungskundgebung am 17. September in Bochum nahm auch Reichspräsident Paul von Hindenburg teil.