Essen. Es war eine Zeit der Not, zugleich die Stunde vieler Anfänge. Ein Buch erzählt von 1923 als Jahr der Musik, mit Spannendem aus dem Ruhrgebiet.

Über 1923 berichten wir heuer nicht zum ersten Mal, doch ein neues Buch lenkt den Blick auf die Musik dieser Zeit. Der Musikwissenschaftler Tobias Bleek, langjähriger Leiter der vielfach ausgezeichneten „Education“-Projekte des Klavier-Festivals, ist sein Autor.

Krise und Aufbruch: Wie klang das 1923? Man singt das gerade erst zur Nationalhymne erklärte Deutschlandlied, die Operette blüht. Zugleich schrecken Strawinsky und Schönberg das Publikum auf. Auf den Straßen singt man Schlager („Ausgerechnet Bananen“), zugleich weht ungekannter Jazz aus Amerika herüber.

Forscher erkundet das Musikjahr 1923: Ruhr-Orchester schlagen in Berlin Alarm

Zu verstehen, warum bestimmte Dinge zu einem bestimmten Zeitpunkt passieren, treibt Bleek an. So kundig wie anschaulich führt er in diese Welt der Widersprüche, in der die Anfänge großer Veränderungen siedeln. 1923 gibt es in Deutschland, zunächst kaum beachtet, die erste öffentliche Rundfunksendung, es wird Medium der Millionen. Blues-Ikone Bessie Smith nimmt ihre erste Platte auf, 100 Jahre später verneigt sich Beyoncé per Instagram vor der großen Kollegin.

Und die Ruhrbesetzung? Bleek wartet mit einer Entdeckung auf. Sie erzählt von Musik als Politikum: 1923 reisen drei Orchester des Ruhrgebiets nach Berlin. „Wirklich faszinierend“, nennt Bleek die Aktion, „denn das Ruhrgebiet war damals fast nur als Kohlenregion und Wirtschaftszentrum bekannt – aber es gab eben eine Reihe großer Orchester. Dortmund, Bochum und Essen schlossen sich zusammen und fuhren als ein großer Klangkörper nach Berlin.“

In der Not von 1923 tauschte man ein halbes Schwein für ein Musikinstrument

Dort geben sie Konzerte, Reichspräsident Ebert ist anwesend. „Ein hochsymbolischer Akt“, sagt Bleek, „man bündelt die Kräfte, man demonstriert Zusammenhalt und zieht vom Ruhrgebiet in die Reichshauptstadt . Auf der anderen Seite wurde Solidarität eingefordert. Die Tournee war ein wichtiger Baustein, diese große Krise des Ruhrgebiets im Reich sichtbar zu machen.“ Den starken Bezug auf die deutsche Kultur über alle politischen Strömungen hinweg erklärt Bleek auch damit, dass nach dem Ersten Weltkrieg „viele Gewissheiten weggebrochen waren“. Kultur, Musik zumal, galt als „eines der wenigen Gebiete, worauf man meinte, noch gemeinsam stolz sein zu können“.

1923, da man qua Inflation Millionen für einen Laib Brot zahlte, ist auch eine Zeit der Not, dem Musikleben blieb sie nicht fremd. Man tauschte Naturalien: Butter gegen einen Theaterplatz. Und selbst die Laien in den Musikvereinen taten alles, damit ihre Klänge nicht verstummten. „Da wurden Instrumente beschafft im Gegenzug für ein halbes Schwein“, weiß Bleek um eine Zeit, die er in diesem starken Buch vorbildlich auffächert.