Oberhausen. Am 1. August 1923 gingen hungernde Arbeiter in Oberhausen auf die Straße. Bei einem Zusammenstoß mit der Polizei schossen Beamte in die Menge.

Der 1. August 1923 war „ein Schreckenstag in Oberhausen“. So titelte einen Tag später die damalige „Oberhausener Zeitung“. Arbeiter der Gutehoffnungshütte (GHH) waren für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen auf die Straße gegangen. Dabei kam es zu einem „Zusammenstoß mit der Polizei“, wie es später hieß. Diesen Zusammenstoß überlebten zwei Demonstranten nicht. Sieben weitere Menschen wurden durch Schüsse verletzt. Die pure Verzweiflung hatte die Männer auf die Straße getrieben.

5000 bis 6000 Arbeiter versammelten sich an diesem Tag zunächst an der Essener Straße, dem damaligen Sitz der GHH, und wollten dann Richtung Innenstadt ziehen. So meldete es die Polizeibehörde in ihrer amtlichen Darstellung. Andere Quellen berichteten gar von bis zu und wohl etwas überschätzten 35.000 Teilnehmern.

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Die Lebenssituation für die Männer und ihre Familien war katastrophal in diesem August 1923. Die Hyper-Inflation hatte die Preise auch für Lebensmittel in unvorstellbare Höhen getrieben. Das Geld der Menschen verlor täglich, ja sogar stündlich an Wert. So ist es auch zu erklären, dass die Arbeiter von damals eine sogenannte Teuerungszulage von sage und schreibe 5 Millionen Mark verlangten.

Hyper-Inflation im Oberhausen der 1920er Jahre

Grund für die Hyper-Inflation war der verheerend lange Schatten des Ersten Weltkrieges: Um diesen zu finanzieren, um Soldaten, Munition, Waffen und Kriegslogistik zu bezahlen, hatte das damalige Deutsche Kaiserreich immense Schulden gemacht. Um diese Schulden bezahlen und auch die hohen Reparationszahlungen leisten zu können, brachte die Regierung der Weimarer Republik immer mehr Geld in Umlauf – bis das wirtschaftliche System kollabierte.

Im Januar 1923 begann zudem die Ruhrbesetzung: Französische und belgische Truppen besetzten das Ruhrgebiet, um nicht geleistete Reparationen einzufordern. Teil des Ruhrkampfes war der passive Widerstand: Bergarbeiter sollten die Arbeit niederlegen und von der Reichsregierung dafür entschädigt werden. Doch dies schwächte die Wirtschaft zusätzlich und heizte die Inflation weiter an.

Dieses Foto zeigt belgische Besatzungssoldaten in Sterkrade. Das vom Stadtarchiv bereitgestellte Bild entstand im Januar 1923 beim Einzug der Soldaten.
Dieses Foto zeigt belgische Besatzungssoldaten in Sterkrade. Das vom Stadtarchiv bereitgestellte Bild entstand im Januar 1923 beim Einzug der Soldaten. © Stadtarchiv Oberhausen

Die GHH entließ wie viele andere Unternehmen massenhaft Arbeiter. Streiks und Proteste waren die Folge, nicht nur bei der GHH, sondern in ganz Oberhausen, ja im ganzen Ruhrgebiet. Doch warum endete der Protest am 1. August 1923 in Oberhausen tödlich? Amtliche Urkunden sowie Zeitungsberichte von damals und die darin veröffentlichten Bekanntmachungen der Polizei, zur Verfügung gestellt vom Oberhausener Stadtarchiv, liefern Hinweise. Für die Polizei waren die Urheber des Protestzuges vom 1. August schnell klar: „Die ganze Bewegung ging offenbar von linksradikalen Elementen aus“, hieß es in der Bekanntmachung wörtlich abgedruckt in der Oberhausener Zeitung.

Demonstranten wollten Brot und andere Lebensmittel

Demnach sollen die damaligen Gewerkschaften noch versucht haben, die Demonstranten von ihrem Vorhaben abzubringen. Doch ohne Erfolg. Die Polizei berichtete später von „außerordentlich vielen Jugendlichen, von denen ein großer Teil sich mit Knüppeln, Latten und Spaten bewaffnet hatte.“ Außerdem seien Äußerungen gehört worden, „wonach mit Gewalt Brot und Lebensmittel beschafft werden sollten“. Laut der Zeitung „Ruhrwacht“ sollte der Demonstrationszug durch das Arbeiterviertel bis zum Rathaus ziehen, „wo in einer öffentlichen Versammlung der Bevölkerung die Sachlage mitgeteilt werden sollte“. Mit „Sachlage“ waren die schlimmen Lebensbedingungen der Arbeiter gemeint.

Arbeiter hatten der GHH ein Ultimatum gestellt: Bis 10 Uhr an diesem Tag sollte die Hütten-Direktion einlenken und Verhandlungen mit den Arbeitern aufnehmen. Als dies nicht geschah, schafften die aufgebrachten Männer Grammophon-Schallrohre herbei und zogen los.

Polizei schoss mit scharfer Munition in die Menge

An der Mülheimer Straße kam es dann zu eben jenem „Zusammenstoß mit der Polizei“, den zwei Menschen mit dem Leben bezahlen sollten. Dorthin hatte die Polizei ihr Aufgebot entsandt, um den Demonstrationszug zu stoppen. Es flogen Steine, die Polizei gab nach eigener Darstellung zunächst Schreckschüsse ab. Als dies keine Wirkung zeigte, folgten Schüsse mit scharfer Munition. „Es entstand ein furchtbar wüstes Durcheinander“, berichtete die Ruhrwacht.

Ein Demonstrant wurde tödlich getroffen: der junge Oberhausener August Spieles, geboren im September 1905 und demnach nicht einmal 18 Jahre alt als er getötet wurde. Der Arbeiter Johann Matenaar (laut Sterbeurkunde 48 Jahre alt) wurde durch einen Schuss in den Bauch zunächst schwer verletzt, später starb auch er. Sieben weitere Männer wurden verletzt, durch Schüsse in Arme, Oberschenkel und den Lendenbereich, ein Arbeiter hatte mit einem Streifschuss am Kopf großes Glück, nicht auch tödlich getroffen worden zu sein. Auch im anschließenden Gerangel wurden Männer verletzt – wie viele, ist unklar.

Nach den tödlichen Schüssen: „Um 10 Uhr herrschte Ruhe“

Die Demonstration löste sich dann allmählich auf. Abends versammelten sich laut damaligem Polizeibericht „jugendliche Burschen“ im Altmarkt-Viertel, die von der Polizei aber auseinandergetrieben wurden. Im Bericht der Behörde hieß es damals abschließend: „Um 10 Uhr herrschte in der Stadt Ruhe.“

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Eine Woche nach den tödlichen Schüssen wurden die Opfer beerdigt. Wie damals üblich, begleitete ein Trauerzug die Toten zur letzten Ruhestätte. Kranzträger und Männergesangvereine machten den Anfang, gefolgt vom meist von Pferden gezogenen Leichenwagen, danach folgten die Angehörigen. Dieser Anblick muss sehr bewegend gewesen sein: Nach und nach folgten die Arbeiter der GHH. Abteilung für Abteilung hatte sich in Nebenstraßen positioniert, um sich dem Trauerzug anzuschließen, sobald dieser passierte. Oberhausen war in Trauer: Händler und Wirte schlossen ihre Geschäfte und Lokale bereits um 15 Uhr.

Bei der Gutehoffnungshütte war zwei Tage nach der so tragisch verlaufenen Demonstration etwas Ruhe eingekehrt. Die Direktion mit dem seit 1909 als Vorstandsvorsitzender amtierenden Paul Reusch und die Arbeiterschaft hatten sich vorläufig geeinigt: Die GHH zahlte ihren Männern Beträge zwischen einer Million und drei Millionen Mark aus, die Arbeiter nahmen ihre Tätigkeit wieder auf.