Bochum. Von Bomben bis hin zu Wölfen: Wie hart das Leben als Jüdin für ihre eigene Mutter war hat in Bochum eine Zeitzeugin zweiter Generation erzählt.

Krieg, Verlust, Leid: Die Jüdin Yonat Shlezinger-Shafir hat in Bochum die Geschichte ihrer Eltern zur Zeit des Nationalsozialismus erzählt. Weil sie als Zweitgeneration die Notwendigkeit dazu sehe, hielt sie am Donnerstag, 14. September, einen Vortrag im Kinder- und Jugendring an der Engelsburger Straße.

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Sie ist zum ersten Mal in Bochum, um von ihren Eltern zu erzählen – für die rund 30 Zuhörer sei das eine Ehre. Eingeladen wurde sie von Maria Hägele, Lehrerin am Neuen Gymnasium. Sie übersetzt den hebräischen Vortrag. Auch sie habe sich eine Aufgabe vorgenommen: Dafür zu sorgen, dass die Vergangenheit von niemandem vergessen und niemals wiederholt werde. Kein Wunder also, dass im Publikum jede Altersstufe vertreten ist.

Das Publikum hörte aufmerksam und betroffen zu. Nach dem Vortrag wurde kräftig applaudiert.
Das Publikum hörte aufmerksam und betroffen zu. Nach dem Vortrag wurde kräftig applaudiert. © FUNKE Foto Services | Gero Helm

Das Leben und Leid ihrer Mutter

Rachel Helfgott, Shlezingers Mutter, sei eine außergewöhnliche Frau gewesen: acht Sprachen habe sie gesprochen, sei Lehrerin gewesen. Doch die Tatsache, betont Shlezinger, dass all ihre Geschwister zur Uni gegangen seien und Akademiker waren, habe nichts an ihrem Schicksal geändert.

Ihre Mutter sei hochschwanger von ihrem ersten Mann gewesen als die deutschen Soldaten 1941 in ihre Heimatstadt Stryj in der heutigen Ukraine einmarschierten. Diese hatten das jüdische Krankenhaus versperrt. Ihre Mutter sei über die zweieinhalb Meter hohe Mauer geklettert, um hinein zu kommen. Ein Tag nach der Geburt ihres Sohnes seien sie aus dem Krankenhaus geflohen. Zum Glück: In der selben Nacht sei das Krankenhaus bombardiert worden, alle Patienten und Ärzte darin gestorben. Kein Einzelfall, wie Shlezinger traurig erzählt.

Führung durch ehemaliges Zwangsarbeiterlager

Das Bochumer Zentrum für Stadtgeschichte – Stadtarchiv veranstaltet am Samstag, 23. September, eine Führung auf dem Gelände des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers, Bergener Straße 116 a–i. Die Führung ist kostenlos und für Gruppen bis zu 20 Personen.

Die Teilnehmenden treffen sich um 14 Uhr an der Informationstafel vor dem ehemaligen Bürgertreff, Bergener Straße 116 c. Anmeldungen sind möglich telefonisch unter 02 34 / 910 – 95 10 oder per Mail an stadtarchiv@bochum.de.

Die Geschichte der Entstehung des Lagers sowie die Herkunft und das Leben der Zwangsarbeit werde anhand von Dokumenten in einem rund 90-minütigen Rundgang veranschaulicht. Laut der Stadt Bochum bekommen die Teilnehmenden einen deutlichen Einblick in das System der Zwangsarbeit während der Zeit des Nationalsozialismus, das von Menschenraub, Ausbeutung und Unterdrückung geprägt gewesen ist.

„Es war sehr schwer ein Kind im Ghetto in Stryj zu haben“, spricht sie weiter. Wie sie berichtet, musste ihre Mutter kurz nach der Geburt Medizin besorgen. Auf dem Rückweg habe es wieder Bombardierungen gegeben. Sie habe sich zwei Tage in einem Fischfass versteckt.

Über ihre Rückkehr ins Ghetto gebe es nur eins zu sagen: „Es war eine Tragödie“, fährt sie sichtlich bedrückt fort, „der neugeborene Sohn war gestorben“. Die Trauer sei kaum zu ertragen gewesen: „Meine Mutter hat sechs Monate lang nicht gesprochen“. In der Zwischenzeit habe es immer öfter Deportationen gegeben.

„Wölfe sind netter als Menschen“

Später habe sie alleine im Wald überleben müssen. „Wölfe sind netter als Menschen“, habe die Mutter einmal zu ihrer Tochter gesagt. In Shlezingers Kindheit habe sie immer probiert, ihr Leid mit Witzen zu überdecken. Nach fast 90 Minuten Vortrag erzählt sie erstmals von sich: „Das ganze Leben bin ich von dieser Geschichte beeinflusst, weil ich mich mit meinen Eltern identifiziere. Ich sehe ihr Leid noch immer als Teil meiner Persönlichkeit an, auf den ich nicht verzichten kann“, erklärt Shlezinger.

Das einzige Ziel ihrer Mutter sei es gewesen, nach Israel zu kommen. Einmal habe sie zufällig eine andere verängstigte Jüdin getroffen: „Ich wusste nicht, dass überhaupt noch Juden übrig sind“, habe diese weinend gesagt. 1949 sei ihre Mutter endlich in Israel angekommen. „Meine Mutter ist zerbrochen“, erzählt Shlezinger. Doch sie habe sofort nach Arbeit gesucht, sich nicht ausgeruht und ihren Vater, Josef Werner Strupp, kennengelernt. 1953 dann wurde Yonat Shlezinger-Shafir geboren.

Wie Shlezinger erzählt hat der Antisemitismus überall geherrscht. Niemand habe die Erlebnisse ihrer Mutter hören, geschweige denn ihr glauben wollen. „Erst als sie alt war hat sie mir ihre Geschichte erzählt“, das sei so hart für sie gewesen, dass sie nachts angefangen habe zu weinen und zu schreien. Shlezinger macht deutlich: „Deswegen ist es umso wichtiger die Geschichte zu erzählen, so etwas darf sich nicht wiederholen“. Das Publikum ist von der Geschichte berührt, stimmt ihr mit Applaus zu.