Bochum. Zum 30-jährigen Bestehen rocken Tocotronic das Zeltfestival Ruhr mit ihren größten Hits. Liebe Grüße gibt es für den Kollegen im Nachbarzelt.
So groß die Bereicherung des Zeltfestivals Ruhr in Bochum und Witten für die Konzertlandschaft im Ruhrgebiet auch sein mag: Etwas nervig ist es schon, wenn während der Shows dauernd die Musik aus dem Nachbarzelt hinüberweht. Dirk von Lowtzow, Sänger der Band Tocotronic, hält zwischen zwei Songs kurz inne, die Beschallung von außen ist beachtlich, und fragt grinsend: „Ist das der Typ von der Kelly Family?“
Tocotronic begeistern ihre Fans beim Zeltfestival Ruhr
In der Tat: Michael Patrick Kelly, erfolgreicher Kelly-Spross, hält nebenan im großen Sparkassen-Zelt bereits am zweiten Abend vor 5000 Fans Hof. Tocotronic schaffen es zur Feier ihres 30-jährigen Bandbestehens hingegen kaum, das wesentlich kleinere Stadtwerke-Zelt zur Hälfte zu füllen. Ein freundlicher Gruß an den Kollegen ist trotzdem drin: „Halten wir eine Gedenkminute für die Kelly Family“, schlägt von Lowtzow schelmisch vor. „Nun gut, eine Gedenksekunde muss reichen.“
Um markige Worte war die Hamburger Band, die seit Jahrzehnten eine treue Fangemeinde um sich versammelt, nie verlegen. Tocotronic, benannt nach einer japanischen Spielkonsole, gelten als Vorreiter des deutschen Denkpop mit gewitzten Texten, krachenden Riffs und wunderbar zarten Melodien, die von Liebe, Romantik und dem unerschütterlichen Glauben an bessere Zeiten erzählen. „Harmonie ist eine Strategie“, sang von Lowtzow einst. Schade, dass der Song an diesem Abend fehlt.
Bunte Reise durch drei Jahrzehnte Tocotronic
Doch sonst können selbst die härtesten Fans der vier „Tocs“ an diesem Abend kaum Fehler im Programm finden. Durch drei Dekaden führt die bunte Reise: Sie beginnt mit dem ganz frühen Song „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ vom ersten Album „Digital ist besser“ (1995) und endet knapp zwei Stunden später mit „Freiburg“ ebenfalls vom Debüt.
Dazwischen: Über 20 gute Gründe, warum Tocotronic eine feste, aber unbequeme Größe in der deutschen Rockmusik sind. Meisterwerke wie das elegische „Eure Liebe tötet mich“, das sich in acht Minuten zu wahren Gitarrenwänden auftürmt, sind ebenso darunter wie Songs jüngeren Datums.
Nach „Explosion“ am Schluss feiern die Fans ihre Helden frenetisch
Ihr letztes Album „Nie wieder Krieg“ erschien Ende Januar 2022 nur wenige Tage vor dem russischen Überfall auf die Ukraine – und könnte aktueller kaum sein. Das schönste Lied darauf heißt „Ich tauche auf“, eine Ode an das wiederaufblühende Leben nach der Corona-Pandemie. Von Lowtzow singt es herzzerreißend.
Nach fünf Zugaben, darunter „Explosion“ vom hervorragenden Album „Kapitulation“, ist um viertel vor zehn Schluss. Die Zuschauer feiern ihre Helden frenetisch. „Wir lieben euch“, ruft von Lowtzow zurück und formt seine Finger zu einem Herz. Während die Fans langsam den Heimweg antreten, ist bei Nachbar Kelly übrigens noch ordentlich was los.
Dirk von Lowtzow liest aus seinem Buch „Ich tauche auf“ am Montag, 25. September, um 19.30 Uhr in den Kammerspielen. Dazu spielt er einige Tocotronic-Songs solo auf der Gitarre.
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