Bochum. In der Bochumer Eheschule sollen Paare ab den 50er Jahren lernen, wie eine erfüllte Partnerschaft funktioniert. Emanzipation war in der Kritik.
Wie funktioniert die Ehe? Wie können beide Partner glücklich werden? Müssen Mann und Frau dafür gar gleichberechtigt sein? Nach Diktatur und Krieg waren den Menschen in Deutschland einige sicher geglaubte Gewissheiten verloren gegangen, viele suchten Orientierung. Die bot, zumindest was das Eheleben betrifft, in Bochum ein Pfarrer. Ende 1957 startete der Krankenhausseelsorger Alfred Ziegner seine „Bochumer Eheschule“, die es in den folgenden Jahrzehnten zu großer Bekanntheit schaffen sollte.
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Auf diese Veranstaltungsreihe hatten Bochumer Bürgerinnen und Bürger offensichtlich gewartet. Es ging unter anderem um Berufstätigkeit von Frauen, Sexualität, Aufklärung und Scham, Scheidung, Gewalt in der Ehe, Kinderlosigkeit, Geburtshilfe, Ehe im Alter, Pubertät oder Mode.
Bochumer Eheschule war bald weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt
Das Konzept traf den Nerv der Zeit. Bald war die Bochumer Eheschule weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Im ersten Arbeitsjahr wurden 15 Gesprächsabende für insgesamt 600 Eheleute organisiert. Finanziell unterstützt wurde die Beratungsstelle vom Evangelischen Kirchenkreis, weiß Anna Warkentin vom Landeskirchlichen Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen.
Die Veranstaltungsreihe wurde im Bahnhofscafé des damals neu erbauten Hauptbahnhofs sesshaft. Während im Jahr 1959 im Schnitt 100 Menschen an der Veranstaltung teilnahmen, waren es zwei Jahre später bereits fast 200. Das Bahnhofscafé war meist völlig überbelegt, viele Zuhörer mussten in den Gängen und auf den Treppen stehen.
Pfarrer Ziegner holte prominente Gastredner nach Bochum
Das lag auch daran, dass es Alfred Ziegner immer wieder gelang, prominente Gäste nach Bochum zu locken. So sprachen der damals sehr bekannte Fernsehpfarrer Adolf Sommerauer, aber auch die Kabarettisten Lore und Kay Lorentz in Bochum über Ehe-Themen.
Historie
1957 rief die Westfälische Landeskirche ihre Gemeinden dazu auf, Kurse für Verlobte einzurichten. In Bochum folgte Krankenhausseelsorger Alfred Ziegner dem Aufruf. „Für mich war aber nicht Verlobung, sondern Ehe der Ernstfall“, sagte er 1997 im Interview. Die Idee zur Eheschule war geboren.
Ende 1957 fand der erste Schulungsabend im christlichen Hospiz statt. Völlig verblüfft registrierte der Gastgeber 60 Gäste.
Drei Jahre später zog die Bochumer Eheschule ins Bahnhofscafé um. Dort blieb sie 22 Jahre lang.
Anfang der 1980er Jahre bat der Pächter des Bahnhofscafés die Eheschule, sich nach einem neuen Quartier umzusehen. Im Anschluss zog die Veranstaltung in die Wirtschafts- und Verwaltungsakademie. 1982 war dann Schluss, die Bochumer Eheschule war Geschichte. Auch die von Pfarrer Ziegner geleitete Eheberatungsstelle in der Freiligrathstraße wurde geschlossen.
Durch die Popularität der Reihe wurde die Bochumer Eheschule auch vom Fernsehen entdeckt. Für die „Aussprache unter vier Augen“ wurde ein Vertrauensteam ins Leben gerufen, dem ein Psychologe, ein Psychotherapeut, ein Frauenarzt, eine Hebamme, eine Hausfrau, ein Rechtsanwalt und ein Pfarrer angehörten. Ab 1961 kamen die Ehepaarkurse „Neue Formen der Geselligkeit“ hinzu. In diesem Rahmen sollten je 15 Paare an fünf bis sechs Abenden „den zeitgemäßen Stil einer geselligen Freizeitgestaltung kennenlernen“ und beispielsweise gemeinsam Tanzen gehen.
Das Konzept erläutert Alfred Ziegner in einer alten Festschrift: „Zwei Feste im Jahr unter dem Motto ‚Spiel und Begegnung im Tanz‘ sind Höhepunkte zwangloser Geselligkeit und Fröhlichkeit. Sie stellen den ‚Ernstfall‘ mitmenschlicher Nähe dar; denn das Gelernte muss auch lebbar sein.“
Sexwahn und emanzipierte Gesellschaft in der Kritik
Durch den Erfolg der Eheschule wird auch ihr Leiter eine Bochumer Bekanntheit. In seiner Ansprache zum 15-jährigen Jubiläum der Eheschule im Jahr 1972 identifiziert er einige Kräfte, die die Institution Ehe in den 70ern „zersetzen“. Es handelt sich um: die industrielle Konsumgesellschaft, die wachsende Mobilität, welche „Ehe zu einem rein partnerschaftlichen Freizeithobby macht“, den „Sexwahn“, die fortschreitende Urbanisierung verbunden mit einer besorgniserregenden Abnahme der Geburtenrate und die „Privatisierung der Ehe als Gegengewicht gegen eine bürokratisierte Welt“.
Die Bochumer WAZ zitiert ihn zu diesem Jubiläum: „Als Missverständnis bezeichnete er das, was unter diesen Vorzeichen als Emanzipation der Frau im Sinne von Gleichheit der Geschlechter begriffen werde. Oft bedeute zum Beispiel die Berufstätigkeit der Frau – lediglich zur Erhöhung des Lebensstandards – Verzicht auf ausgefülltes Familienleben. […].
Die so lautstark geforderte ‚emanzipierte Gesellschaft‘, so schloss Ziegner, müsse sich fragen, ob sie zur Ehemündigkeit und größerer Liebesfähigkeit und damit zum wahren Menschsein beitrage und den ‚unverfügbaren Ursprung‘, aus dem die Ehe lebe, anerkenne. Die Antwort werde mit über die Zukunft dieser Gesellschaft entscheiden.“
„Konfliktfreie Ehe ist ein Wunschtraum“
Der ehemalige Krankenhausseelsorger leitete die Eheschule insgesamt 25 Jahre lang. Auch im Anschluss blieb Ziegner nicht untätig, sondern schrieb Ehe- und Partnerschaftsratgeber. „Die konfliktfreie Ehe ist nur ein Wunschtraum, eine Utopie“, schreibt er in der alten Festschrift. „In dem Alltag zu zweit ist heute jeder auf mitmenschliche Hilfe angewiesen. Das ist in der Tat ein Novum, das alle Lebensstufen der Ehe und der Familie in dem radikalen Strukturwandel der industriellen Gesellschaft der Einweisung, Beratung, Hilfestellung und Führung bedürfen. Jede Ehe steht wie jede menschliche Gemeinschaft in einem Werde- und Reifungsprozess.“
Diesen zu begleiten, sah Alfred Ziegner offenbar als seine Aufgabe an. Er starb 2002 im Alter von 90 Jahren.