Bochum. Viactiv-Chef Markus Müller missfällt die Flickschusterei der Politik bei der Finanzierung der Kassen. Er fordert Mut zu schmerzhaften Reformen.
Zum 1. Januar 2023 steigen die Zusatzbeiträge für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV). Nicht nur das: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) empfiehlt den Krankenkassen gar, ihre Reserven anzugreifen, um das Milliardenloch zu stopfen. Markus Müller, Chef der Viactiv in Bochum, hält das für den falschen Weg. Der Mediziner fordert die Politik auf, Strukturen zu ändern – und sich dabei nicht länger vor mutigen und schmerzhaften Reformen zu drücken.
Chef der Krankenkasse Viactiv in Bochum ist enttäuscht von der Politik
„Es ist bei der Gesundheit wie beim Klima: Die grundlegenden Probleme, die auf den Nägeln brennen, werden von der Politik nicht angegangen“, sagt Markus Müller. Der 53-Jährige ist seit Mai Vorsitzender des Vorstands bei der Krankenkasse Viactiv in Bochum. Die jüngsten Vorschläge Lauterbachs zur Finanzierung der Krankenkassen sind laut Müller „ein Tropfen auf den heißen Stein“.
Viactiv-Chef Müller lehnt Gewinnmaximierung in Kliniken abMüller erwartet von den politisch Verantwortlichen Strukturreformen, die die Ausgaben der Kassen deutlich senken. Insbesondere die Zahl der Krankenhäuser sei in Deutschland zu hoch. „Wir leisten uns hier ein sehr teures System mit vielen kleinen Häusern und die Versorgung der Patienten ist nicht optimal“, sagt Müller. Er lehnt es ab, „den Beitragssatz mit unserem Vermögen zu subventionieren“.
Immer neue Fehlanreize verursachen hohe Kosten
Die Flickschusterei der vergangenen Jahre durch immer neue Ideen der Finanzierung wie Tages- oder Fallpauschalen sei gescheitert. „Jedes dieser Finanzierungssysteme setzt Fehlanreize, diese aber müssen wir minimieren.“ Müller fordert einen „Renditedeckel für Krankenhäuser“, wohlwissend, dass „auch Wettbewerb wichtig ist“.
Zahlen aus der Corona-Pandemie belegten, dass viele Behandlungen ambulant erfolgen könnten. So sei die Zahl der ambulant-sensitiven Krankenhausfälle 2021 im Vergleich zu 2019 deutlich zurückgegangen. Bei Rückenleiden und chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen (OPCD) um gut ein Drittel, bei Bluthochdruck um 26 und bei Diabetes immerhin um 20 Prozent. Als ambulant-sensitive Krankenhausfälle werden Behandlungen im Krankenhaus bezeichnet, die durch eine gute ambulante Versorgung hätten vermieden werden können.
Bochumer Krankenkasse hat mehr als 720.000 Versicherte
Nach mehreren Jahren mit sinkenden Versichertenzahlen geht es bei der Viactiv seit 2021 wieder aufwärts. Im ersten Quartal dieses Jahres versorgte die Kasse 720.437 Versicherte. Damit ist sie die viertgrößte Betriebskrankenkasse Deutschlands, die größte in Nordrhein-Westfalen.
Bleibt wachsen ein wichtiges Ziel? „Ja, aber nicht um jeden Preis. Unsere Kunden sollen unser Wachstum positiv wahrnehmen“, sagt Simone Kunz. Die 44-Jährige ist neu im Vorstand und steht gemeinsam mit Müller für einen Generationswechsel an der Spitze. Kunz leitete zuletzt die Kranken- und Pflegeversicherung der Knappschaft. Sie will die Kasse „konsequent auf unsere Kunden ausrichten“.
Ein Beispiel dafür sei die eigene Service-Hotline. Spätestens nach einer Minute sei ein Ansprechpartner am Telefon. Kunz: „Unsere Kunden wollen persönlich beraten werden.“ 70 Prozent aller Anliegen könnten zudem an der Hotline erledigt werden, so Müller. Neu im Angebot ist eine Hotline für Patienten, die einen Schlaganfall erlitten haben. „Diese erkrankungs-spezifische Beratung werden wir ausbauen“, sagt Müller. In Planung seien etwa Hotlines für Rückenleiden oder Brustkrebs.
Überraschender Generationswechsel an der Spitze
1580 Mitarbeiter an 60 Standorten
Die Viactiv ist eine Betriebskrankenkasse, die bundesweit an rund 60 Standorten mit 1580 Mitarbeitern rund 720.000 Versicherte und 110.000 Firmenkunden betreut.
Hauptsitz der Viactiv ist Bochum. Die Kasse ist hervorgegangen aus Fusionen verschiedener BKK, u.a. Krupp, Mannesmann, Opel, Dräger, Evonik und Werften in Rostock und Wismar.
Eigenen Angaben zufolge betrug das Jahresergebnis in Einnahmen und Ausgaben 2021 knapp drei Milliarden Euro.
Der Generationswechsel an der Spitze der Viactiv kam im Mai durchaus überraschend. Nach 21 Jahren an der Spitze musste Reinhard Brücker aus dem Amt scheiden. Den von ihm mit viel Herzblut geplanten Umzug der Kasse von der Universitätsstraße auf das ehemalige Opelgelände kann er nicht mehr begleiten.
Obwohl schon in der Planung des Neubaus auf dem Campus das Thema mobiles Arbeiten eines war, zeichnet sich nach fast drei Jahren Pandemie ab, dass Viactiv nicht alle geplanten Büroflächen benötigen wird. „Wir werden Büros untervermieten. Corona hat nicht nur das Tempo der Digitalisierung beschleunigt, sondern auch die Arbeitswelt verändert“, sagt Müller. Insbesondere die Arbeit im Homeoffice gehört dazu.
Umzug auf das ehemalige Opel-Gelände erfolgt im Frühjahr 2023
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Im Februar 2023 soll der Umzug starten, Ende März abgeschlossen sein. Aktuell sind auf dem Campus 479 Arbeitsplätze geplant. 817 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden dabei offiziell von anderen Standorten in Düsseldorf, Duisburg, Mülheim, Marl oder Oberhausen nach Bochum versetzt. Zurzeit laufen Gespräche mit dem Personalrat, um wirtschaftliche Nachteile für die Mitarbeiter auszugleichen.
Der Vorsitzende des Personalrates ist zuversichtlich. „Bei uns wird die Mitbestimmung wieder gelebt. Es gab Zeiten, da sind wir aus dem Tarifvertrag ausgetreten“, sagt Stefan Zepanski. Statt mehr Lohn sei seinerzeit die Arbeitszeit verkürzt worden. „Das fällt uns heute auf die Füße.“ Für Mitarbeiter, die künftig eine weite Anfahrt nach Bochum haben, seien Fahrtkostenzuschüsse, Umzugsbeihilfen oder häufigeres mobiles Arbeiten im Gespräch.