Bochum. Der Chef der Krankenkasse Viactiv, Markus Müller, hält nichts von Gewinnmaximierung in Kliniken – glaubt aber, dass es in NRW zu viele gibt.

Markus Müller lenkt seit dem 1. Mai die größte BKK in Nordrhein-Westfalen. Der 53-jährige Mediziner hat damit Reinhard Brücker nach mehr als zwei Jahrzehnten an Spitze der heutigen Viactiv abgelöst. Ein Neuling in der Krankenkassenbranche ist Müller keineswegs. Seit zwölf Jahren ist der gebürtige Schleswig-Holsteiner bei der BKK mit Sitz in Bochum in leitender Funktion. Seit zwei Jahren agiert er als Vorstandsmitglied der Krankenkasse mit rund 720.000 Mitgliedern. Viele davon leben in Südwestfalen, nicht erst seit der Übernahme der BKK Achenbach-Buschhütten in Kreuztal vor knapp einem Jahr. Müller hält die von Landesminister Karl-Josef Laumann (CDU) vorangetriebene Krankenhausstrukturreform auch für ländliche Regionen wie das Sauer- und Siegerland für unverzichtbar und mahnt, dass Deutschland wieder schlecht vorbereitet auf eine Viruswelle im Herbst ist.

Herr Müller, haben Sie nach dem Ausgang der NRW-Wahl vor einer Woche aufgeatmet, weil die CDU gewonnen hat und Karl-Josef Laumann als Treiber der Krankenhausstrukturreform mit hoher Wahrscheinlichkeit Gesundheitsminister bleibt?

Markus Müller: Eigentlich stehe ich ja der SPD und den Grünen näher, aber gerade bei diesem Thema schlägt mein Herz für Minister Laumann.

Die Reform ist umstritten, weil Hospitäler schließen sollen. Bevor der Blick nach Südwestfalen geht, müsste nicht erst einmal bei Ihnen vor der Viactiv-Haustür geschaut werden, im Ballungszentrum Ruhrgebiet, wo beinahe an jeder Ecke eine Klinik steht?

Das eine schließt das andere nicht aus. Es geht aber insgesamt darum, die Versorgung zu verbessern, also auch ökonomischer und effizienter zu werden. Die Kosten tragen Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit ihren Beiträgen, wir als Kasse verwalten das Geld nur.

Aber Versicherte im Sauer- oder Siegerland fühlen sich vermutlich besser versorgt, wenn sich in ihrer Nähe ein Krankenhaus befindet – und Arbeitgebern ist das auch nicht gleich.

Wir sollten uns bei dieser Frage von Emotionen lösen. Das Krankenhaus nebenan ist oft nur eine Scheinsicherheit. Klar ist, wir müssen Lösungen für die ländlichen Räume schaffen. Nehmen wir ein Beispiel: Bei einem Schlaganfall, wenn es um Minuten geht, ist ein Patient besser versorgt, wenn Rettungsdienst und Notarzt schnell vor Ort sind und er auf dem Weg in eine spezialisierte Klinik oder ein hoch spezialisiertes Gesundheitszentrum behandelt wird. Das ist auch eine Frage der Fachkräfte. Wir können den Status quo personell gar nicht mehr wuppen. Weder in der Pflege noch im stationären Gesundheitswesen.

Die Strukturreform ist letztlich eine Sparreform?

Nein, eine Reform, die Qualität und nachhaltig sichere Versorgung im Blick hat. Ich glaube sogar, dass wir wieder an mehr Krankenhäuser in kommunaler Trägerschaft denken sollten. Kommunale Häuser sind nicht per se besser. Allerdings glaube ich, dass eine Ausrichtung auf Gewinnmaximierung nicht in Krankenhäuser gehört.

Wäre eine Möglichkeit, das Vergütungssystem zu verändern?

Ja, das heutige DRG-System setzt falsche Anreize. Es verleitet dazu, das zu tun, was am meisten Geld bringt.

Wie kann sich das ändern?

Mit einer Deckelung der Vergütung. Natürlich soll es eine Gewinnkomponente für die Häuser geben, die ja auch Unternehmen sind, aber wir müssen uns das DRG-System noch einmal anschauen.

Die vergangenen zwei Jahre mit der Corona-Pandemie haben Löcher in Milliardenhöhe in den Kassen hinterlassen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach spricht von 17 Milliarden Euro. Was bedeutet das für die Kassenbeiträge?

Es wird 2023 eine Lücke geben zwischen Einnahmen und Ausgaben von mindestens 17 Milliarden Euro. Das Essener Institut Bitmarck schätzt das Defizit aufgrund der aktuellen Wirtschaftsentwicklung eher auf 24 Milliarden Euro. Diese Lücke muss geschlossen werden.

Um wie viel müssen dann die Beiträge steigen?

Wenn es nur über Beiträge geregelt würde, dann läge der durchschnittliche Zusatzbeitrag laut Bitmarck statt bei 1,3 bei 2,75 Prozentpunkten. Mein Vorschlag wäre ein anderer.

Nämlich?

Die Beiträge, die Kassen für ALG-II-Empfänger bekommen, die nur einen Bruchteil der tatsächlichen Leistungen abdecken, zu einem höheren Teil über Steuergelder zu begleichen. Gleiches gilt für die Familienversicherung. Beides zusammengenommen wäre sicher eine erhebliche Entlastung des Kassen-Systems. Die Politik wird auch sicher wieder über Leistungsstreichungen diskutieren, auch wenn Minister Lauterbach dies zur Zeit noch ausschließt. Vermutlich wird der Bundesminister vorschlagen, den Durchschnitts-Beitragssatz entsprechend zu erhöhen. Das wird die Lücke aber nicht komplett schließen. Deswegen sind die Strukturreformen auch notwendig. Zumal die Pandemie erhebliche Kosten verursacht hat. Das liegt zum Teil auch daran, dass wir schlechter durch die Corona-Krise gekommen sind als es hätte sein müssen.

Was haben wir falsch gemacht?

Wir haben ein enormes Informationsdefizit, unter anderem in Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Bei der Mitnahme von Bürgerinnen und Bürgern haben wir nur ein Mangelhaft erreicht. Und wir haben Minderheitenmeinungen genau den gleichen Raum gegeben wie Mehrheitsmeinungen, ohne die Relevanz wirklich einzuordnen. Weder durch Medien, noch Politik oder auch durch uns Krankenkassen. Der größte Fehler rückblickend war, wie wir die zweite Welle im Herbst 2020 angegangen sind. Das war halbherzig.

Hätten wir mit Blick auf den Herbst 2022 die Impfpflicht gebraucht?

Aus medizinischer Sicht wäre es sinnvoll gewesen, weil wir damit gesamtgesellschaftlichen und medizinischen Schaden von Individuen abgewendet hätten. Deshalb war ich ein Befürworter der Impfpflicht.

Und wie kommen wir nun ohne durch den Herbst?

Das ist sehr schwierig vorauszusagen, weil wir nicht wissen, wie sich das Virus weiterentwickelt. Ich gehe aber davon aus, dass wir wieder eine deutlich spürbare Welle haben werden mit deutlich mehr Toten und Einschränkungen im Klinikbereich.

Also wird das Virus noch nicht mit einer Grippe vergleichbar sein?

Es war nie mit der Grippe vergleichbar. Das sieht man allein an der hohen Sterblichkeitsrate. Es hat natürlich seinen Charakter verändert. Omikron ist anders als Delta. Aber der große Unterschied ist, dass wir gegen Grippeviren eine über Jahrzehnte entwickelte ganz andere Basisimmunität haben.

Das bedeutet?

Ob ungeimpfte mit Omikron Infizierte einen Immunschutz haben, kann man jetzt nicht sagen. Auch der Impfschutz lässt nach. Deshalb fürchte ich, wir bekommen wieder einen Winter, in dem alle sagen werden, die Ausbreitung des Virus‘ sei so nicht zu erwarten gewesen.

Was müsste also jetzt getan werden?

Erstens eine klare Kommunikation: Die Pandemie ist nicht vorbei! Zweitens: Wie gehen wir damit um, wenn wir eine aggressive Variante bekommen? Wie schützen wir uns? Dann müssen wir in bestimmten Situationen wieder Maske tragen. Die Abschaffung ist sowieso absurd. Aus meiner Sicht ein großer Fehler. Drittens: Wir müssten jetzt bereits beantworten, wie wir etwa mit Schulen umgehen und es schaffen, dass nicht wieder alle Kinder zuhause bleiben müssen. Wie gehen wir mit den Intensivstationen um. Das sind alles Fragen, die jetzt(!) beantwortet werden müssen. Das kann man alles jetzt angehen, aber wir werden wieder überrascht sein. Ich hoffe, ich irre mich.