Bochum. Bis 2022 sollen Haltestellen barrierefrei sein. Bochum schafft das erst bis 2037 und beruft sich auf Ausnahmen. Damit ist die Stadt nicht allein.

Die Uhr tickt. In 94 Tagen sollen alle Haltestellen im Öffentlichen Nahverkehr barrierefrei genutzt werden können. So sieht es das 2013 neu verabschiedete Personenbeförderungsgesetz vor. Bochum ist weit davon entfernt. Fast die Hälfte aller beinahe 1300 Haltestellen ist noch nicht barrierefrei.

Ausbauquote in Bochum liegt bei gut 50 Prozent

Seit 2009, als die Ausbauquote noch bei 29,5 Prozent lag, hat die Stadt nach eigener Darstellung es zwar geschafft, die Quote auf mehr als 50 Prozent zu verbessern. „Dabei wurden nicht nur vorhandene Steige ausgebaut, sondern auch ganz neue Haltestellen eingerichtet“ und jährlich durchschnittlich 30 Bahn- und Bussteige pro Jahre neu errichtet oder ausgebaut, wie es heißt. Damit liegt Bochum im Vergleich zu anderen Kommunen gemeinsam mit Gelsenkirchen (Stand 2020) auf Platz vier aller Städte und Gemeinden im Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR).

Schon 2015 hieß es bei der Stadt, angesichts von geschätzten Kosten in Höhe von 13 Millionen sei die Finanzierung des Komplettausbaus „eine große Umsetzungshürde“ und werde nicht zuletzt angesichts der personellen Lage „nicht leistbar sein“. Sie wolle deshalb Ausnahmen von den gesetzlichen Vorgaben geltend machen.

Auch interessant

Fast 600 Haltestellen müssen noch umgebaut werden

Von 1174 Richtungshaltestellen im Stadtgebiet galten 2015 insgesamt 455 als „niederflurgerecht“. Das betraf vor allem Straßenbahnhaltestellen. Von den 973 Bushaltestellen war lediglich ein Drittel barrierefrei. Heute (Stand Ende 2020) sind es nach Angaben der Stadt 474 von 1069. Insgesamt 575 entsprechen noch dem alten Standard.

Das sei alles andere als eine Erfolgsmeldung, kritisiert CDU-Ratsmitglied Stefan Jox. Gehe der Ausbau in diesem Tempo weiter, werde die gesetzliche Vorgabe erst 2040 erreicht. „Hier ist mehr Tempo gefragt“, so Jox. Er verweist auf andere Städte. So habe Oberhausen bereits fast 90 Prozent Barrierefreiheit erreicht. Es sei unverständlich, warum sich SPD und Grüne in Bochum regelmäßig gegen die Bereitstellung von größeren Mitteln für den Haltestellenausbau aussprächen.

Auch interessant

Die meisten Stadt- und Straßenbahnhaltestellen sind behindertengerecht ausgebaut.
Die meisten Stadt- und Straßenbahnhaltestellen sind behindertengerecht ausgebaut. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Tatsächlich liegt Oberhausen nach Angaben des VRR bereits bei 94 Prozent (2020). Dahinter folgen Bottrop (59 Prozent) und Düsseldorf (53 Prozent). Knapp hinter Bochum rangiert Mülheim (46 Prozent), die Städte dahinter fallen weit ab. „Damit ist Bochum in der Region vergleichbar gut aufgestellt“, heißt bei der Stadt.

VRR trägt 90 bis 100 Prozent der Kosten

Tatsächlich belastet der Ausbau die Kommunen finanziell offenbar gar nicht so sehr. „Wir fördern den barrierefreien Haltestellenausbau mit bis zu 90 Prozent der Kosten“, sagt Dino Niemann, Sprecher des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr (VRR). Am Mittwoch (29.) berate der Verkehrsausschuss gar einen Antrag, diese Förderung auf 100 Prozent zu erhöhen. Städte müssen lediglich ihren Bedarf anmelden und darauf hoffen, in den Förderkatalog aufgenommen zu werden.

Bochum-Mitte ist am besten ausgestattet

Die Ausbauquote für barrierefreie Haltestellen ist in den sechs Stadtbezirken höchst unterschiedlich. In Mitte liegt sie bei 60 Prozent. Dort sind 210 von 351 Steigen niederflurgerecht ausgebaut. Im Südwesten sind es gerade einmal 37 Prozent (76 von 206).

Die anderen Bezirke: Wattenscheid 42 Prozent (80 von 190), Nord 51,5 Prozent (69 von 134), Ost 41,5 Prozent (88 von 211) und Süd 58 Prozent (106 von 182).

Die Stadt hat eine umfangreiche Broschüre zur Barrierefreiheit im Öffentlichen Nahverkehr erarbeitet. Zu finden ist sie unter https://www.bochum.de/barrierefreiheit-OEPNV

„Es fehlt derzeit weniger an Haushaltsmitteln, sondern an geeignetem Fachpersonal sowie an geeigneten Firmen“, heißt es bei der Stadt. Es gebe nicht viele Firmen, die sich um Haltestellenpakete bewerben. Und da alle Kommunen und Kreisen bemüht seien, ihre Quote auszubauen, „konkurrieren sie in der Region sowohl um Firmen, wie auch um das Fachpersonal.“

Auch interessant

Bahnsteigszene in der U-Bahn am HBF Essen fotografiert am Montag, 11.10.2010. Das Bild zeigt einen Zug der U17.
Von Ute Schwarzwald, Thomas Mader und Michael Kohlstadt

Stadt macht Ausnahmegründe geltend

Die Verwaltung verweist allerdings auch darauf, dass die Frist 1. Januar 2022 „nicht gilt, sofern im Nahverkehrsplan konkret Ausnahmen benannt und begründet werden“. Diese Konkretisierung sei 2017 beauftragt und im Mai vom Rat beschlossen worden. Damit werde der Pflicht aus dem Gesetz nachgekommen. Bochum habe sogar als erste Kommune im VRR ihre Teilfortschreibung zur Barrierefreiheit mit den erforderlichen Ausnahmeregelungen veröffentlicht. Im übrigen seien mit der Novellierung des Gesetzes die Aufgabenträger für die Planung, nicht aber für die Umsetzung der „vollständigen Barrierefreiheit“ zuständig.

Auch interessant

Aus den Erfahrungswerten der Ausbauquote der vergangenen Jahre sei eine „realistische Zielvorgabe“ ermittelt worden, die auch künftig zu schaffen sei, sofern sich die Rahmenbedingungen nicht verschlechtern. „Realistisch sind danach 30 Steige, also 15 Haltestellen, pro Jahr, die ausgebaut werden können.“ Rein rechnerisch wären dann alle heutigen Haltestellen bis etwa 2037 ausgebaut.

100-prozentiger Ausbau vermutlich nicht möglich

Die Reihenfolge des Ausbau für die nächsten 118 Haltestellen steht schon fest, sie ist in einer Prioritätenliste hinterlegt. Ein Beispiel: Die Haltestelle an der Wilbergstraße in Weitmar, wo die Busse 354, 366 und 385 halten, wird frühestens 2025 umgebaut.

Einen 100-prozentige Ausbau wird es nach Einschätzung der Stadt ohnehin nicht geben, z.B. wenn für einen Ausbau Platz gebraucht würde und die Haltestelle an ein privates Grundstück grenzt. Entschieden werden müsse noch, ob nicht ausbaubare Haltestellenstandorte langfristig ganz aufgegeben werden.