Essen. . Gegner und Befürworter des kostenlosen Nahverkehrs diskutieren die Idee. Einige Städte haben sie ausprobiert - mit unterschiedlichem Erfolg.
Schnell mit der U-Bahn in die City, ohne einen Gedanken an Preisstufe oder Kleingeld zu verschwenden: Der kostenlose Nahverkehr wäre ein „Riesending“ für das Ruhrgebiet, findet etwa Duisburgs OB Sören Link (SPD). „Wir würden die Umwelt entlasten und zugleich weniger Verkehr auf den Straßen haben.“ Doch welche Erfahrungen machten andere Städte und wie sollte man ihn finanzieren, den „Nahverkehr zum Nulltarif“, den die Bundesregierung am Dienstag für Essen und vier weitere Modellstädte ins Spiel brachte – freilich ohne konkret zu werden.
Beispiel Tübingen
In Tübingen (87 000 Einwohner) liegt ein Konzept fürs Gratis-Ticket seit zehn Jahren in der Schublade von Bürgermeister Boris Palmer (Grüne). Die Umsetzung würde den Steuerzahler rund 15 Millionen Euro kosten: neun Millionen wegen ausbleibender Ticketerlöse plus sechs für nötige Investitionen – bei einem Drittel mehr an Fahrgästen. Alles in allem sei das „nicht viel“, findet Palmer, etwa 15 Euro pro Bürger und Monat. Im Januar stellte der Gemeinderat 200 000 Euro für ein „Modellprojekt“ bereit: Seit vergangenem Wochenende rollen die Busse gratis. Allerdings nur samstags. Und dass das zentrale Parkhaus 20 Monate lang saniert wird: half wohl bei der Entscheidung.
Die Fahrgäste
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Vor „plakativen Ideen“ warnt Lothar Ebbers, Sprecher des Fahrgastverbandes Pro Bahn in NRW. „Man braucht sehr viele technische und bauliche Voraussetzungen, wenn man durch Gratis-Tickets deutlich mehr Fahrgäste locken will. Und die sind ausgerechnet in Essen mit am schlechtesten.“ Denn die Ruhrbahn habe „herzlich wenig Reserven“. Es fehle etwa an Fahrpersonal. Eine Essener „Insellösung“ hält Ebbers ohnehin für verfehlt. „Über die Hälfte der ÖPNV-Nutzer in Essen sind Pendler.“ Wenn es schon Geld gibt, dann müsse es in Infrastruktur fließen. „Nur so kann man den ÖPNV-Anteil am Gesamtverkehr auf 25 Prozent bringen.“ Heute sind es 18.
Beispiel Templin
Templin (16 000 Einwohner) war die erste deutsche Stadt, die sich traute, 1998. Das Experiment scheiterte – am eigenen Erfolg. Die Fahrgastzahlen stiegen in nur fünf Jahren von 320 000 auf 4,4 Millionen – was angeblich nicht mehr zu bezahlen war. Zumal keine 20 Prozent der „Umsteiger“ Autofahrer, sondern Radler oder Fußgänger waren. 2003 wurde das Projekt eingestellt.
Der Experte dafür
Dass die Infrastruktur nicht ausreiche, um ein Plus an Fahrgästen zu befördern, hält Prof. Oscar Reutter für „ein hasenfüßiges Argument. Da hat man Angst vor dem Erfolg“, sagt der Experte des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie. „Wenn man von einer Sekunde auf die nächste den Schalter umlegen würde, würde es Stau an der Haltestelle geben. Man muss es durchrechnen und den Nahverkehr Schritt für Schritt ausbauen.“ Ein Bürgerticket wie das Semsterticket für Studenten hält er für machbar. „Natürlich kostet es etwas, wenn Sie die Menge der Autos halbieren wollen. Aber wenn man Klimaschutz und Luft reinhalten ernst nimmt, muss man darüber nachdenken.“
Beispiel Hasselt
Die belgische Stadt Hasselt (77 000 Einwohner) widmete Geld um, das für den Bau einer Stadtautobahn geplant war, und steckte es ab 1997 in ihren kostenlosen Nahverkehr. Die Zahl der Nutzer stieg aufs 13-Fache. 2014 wurde das Projekt jedoch beendet. Aus Kostengründen, hieß es.
Die finanzielle Lage
Erst vor wenigen Wochen kündigte die Ruhrbahn an, für 245 Millionen Euro ihre U- und Straßenbahnflotte in Essen und Mülheim austauschen zu wollen. Die größte Investition seit Jahrzehnten, doch sie muss komplett über Kredite finanziert werden. Auch die Bogestra kämpft. Allein der gesetzlich geforderte barrierefreie Ausbau von Haltestellen verschlingt mehrstellige Millionenbeträge. Und in rund zwanzig Jahren steht vierlerorts die aufwändige Sanierung der Verkehrstunnel an.
Beispiel Tallinn
Tallinn führte den Nulltarif 2013 ein. Es wurden Extra-Busspuren geschaffen und die Ampeln für den ÖPNV auf Vorfahrt gestellt. Die estnische Hauptstadt finanziert ihr Angebot über die Einkommenssteuer – und hat es nie bereut, sie verdient gut daran. Gleich im ersten Jahr lockte es 11 000 Esten aus dem Umland nach Tallinn – denn die Chipkarte, die zur freien Fahrt berechtigt, erhält nur, wer offiziell in Tallinn gemeldet ist. Was der Stadt neue Zuweisungen von elf Millionen Euro bescherte.
Der Experte dagegen
„Der Nulltarif geht in die falsche Richtung. Wir müssen das, was wir haben besser machen“, sagt Andreas Knie vom Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (Innoz) in Berlin: Das sei nicht zu erreichen, indem man Milliarden aufwendet, um Umsonst-Tickets zu finanzieren. Stattdessen müsse das Geld investiert werden, um Taktzeiten zu erhöhen und alle Angebote der Mobilität zu vernetzen: Von Bus und Bahn über Car-Sharing bis hin zu Mietfahrrädern und -Motorrollern. Knie geht davon aus, dass mit einem kostenlosen Angebot nur fünf bis zehn Prozent der Autofahrer zum Umsteigen bewegt werden können. „66 Prozent sind Umfragen zufolge überhaupt nicht wechselwillig.“ Und bei dem Rest spiele das Geld nicht die Hauptrolle, die Bahnen seien zu voll oder unpünktlich und das Tarifsystem sei einfach zu kompliziert.