Bochum. Nach tödlichen Schüssen auf einen Rentner in Bochum ist ein Polizist vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen worden. Das Urteil ist umstritten.

Wann darf ein Polizeibeamter schießen, wenn er sein Leben akut bedroht fühlt – und wie viele Male? Das Schwurgericht Bochum hat diese Frage in einem konkreten Fall beantwortet: Es sprach am Montag einen Polizeihauptkommissar (38) aus Bochum in einem sehr umstrittenen Prozess vom Vorwurf des Totschlags frei.

Der Familienvater hatte einen Rentner (74) auf offener Straße erschossen, nachdem dieser ihn mit einem revolverähnlichen Gegenstand bedroht hatte. Dreimal kurz hintereinander drückte er ab, der Getroffene verblutete binnen weniger Sekunden. Richter Josef Große Feldhaus sprach von einer „erforderlichen Notwehr-Handlung“. „Er durfte sich entscheiden , tödlich zu verletzen.“ Auch mit drei Schüssen.

Verteidiger des Bochumer Polizisten: „Es ist eine Tragödie“

Auch interessant

Verteidiger Michael Emde nennt den Fall „eine Tragödie“. Für beide Seiten, auch den Angeklagten, der seit Anklageerhebung vor sieben Monaten vom Dienst freigestellt ist. Dies dürfte sich nach dem Urteil aber ändern.

16. Dezember 2018, 20 Uhr: Die Polizei wird zum wiederholten Mal in diesem Sonntag zur Velsstraße in Altenbochum gerufen. Wegen Ruhestörung in der Wohnung des allein lebenden Rentners, ein ehemaliger Opelaner. Ein anfangs völlig banaler Einsatz. Doch dann eskaliert alles.

„Nimm die Finger vom Gürtel! Lass das, Alter!“

Vor der Wohnung auf dem Gehweg fordert der Polizist den Ausweis des „Störers“ und bekommt ihn auch. Alles scheint Routine. Doch plötzlich nestelt der Rentner an seinem Hosenbund. Der Polizist glaubt zunächst, dass es ein Messer ist. „Nimm die Finger vom Gürtel! Lass das, Alter!“, sagt der Beamte. Die Antwort: „Wieso Messer? Das ist eine Knarre!“

Ein Licht zum Gedenken an den tödlich getroffenen Rentner an der Velsstraße in Bochum.
Ein Licht zum Gedenken an den tödlich getroffenen Rentner an der Velsstraße in Bochum. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Nun geht alles blitzschnell: „Steck die Knarre weg!“, ruft der Beamte deutlich. Doch der Rentner geht damit trotzdem bedrohlich auf ihn zu. Dann, aus zwei bis drei Metern Entfernung, schießt der Polizist, der „Angst um sein Leben“ hat, wie der Richter später sagen wird.

Zwei Projektile treffen in Bauch und Oberkörper, eines streift die Brust. Der Rentner sackt zusammen und stirbt auf dem Gehweg. Noch am Abend stellt sich heraus: Die „Knarre“ ist eine metallene Revolver-Attrappe, ein Feuerzeug, neun Zentimeter kurz.

Polizeibeamter blickte nur noch in den Lauf des vermeintlichen Revolvers

Große Feldhaus spricht von einem „Erlaubnistatbestandsirrtum“; dadurch habe der Beamte, der nur noch in die Mündung des Schein-Revolvers geblickt habe, keine Schuld. Der Tod sei „schicksalhaft“ gewesen.

Auch Oberstaatsanwaltschaft Andreas Bachmann wollte Freispruch. Die Waffe habe echt ausgesehen, der Beamte habe nach den Regeln der polizeilichen Ausbildung gehandelt.

Das sieht der Anwalt der Hinterbliebenen, Bastian Junghölter, ganz anders: Er forderte eine Verurteilung zu Haft auf Bewährung wegen Totschlags in einem minderschweren Fall, zumindest eine wegen fahrlässiger Tötung. Es sei „nicht erforderlich“ gewesen, dreimal zu schießen. „Sie waren überfordert“, sagte er zum Angeklagten. Die mehrfachen Schüsse seien „aus Panik und Angst“ erfolgt und „rechtswidrig und unentschuldigt“ gewesen.

Erschossener Rentner aus Bochum war an einer Psychose erkrankt

Strafanzeigen gegen Mitarbeiterinnen der Stadt

Die Staatsanwaltschaft hatte die Ermittlungen gegen den Polizisten zunächst eingestellt. Aber der Anwalt der Hinterbliebenen hat am Oberlandesgericht Hamm mit einem „Klageerzwingungsverfahren“ dafür gesorgt, dass doch Anklage erhoben werden musste.

Hinterbliebene haben auch zwei Mitarbeiterinnen des sozial-psychiatrischen Dienstes der Stadt angezeigt, darunter eine Ärztin (55) – wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung bzw. unterlassener Hilfeleistung. Grund: Der Rentner hätte rechtzeitig psychiatrisch untergebracht werden müssen. Die Ärztin sagte vor Gericht aber, dass sie bei dem Mann weder Fremd- noch Eigengefährdung gesehen habe.

Während seines Plädoyers holte der Anwalt zur völligen Überraschung aller Anwesenden eine Nachbildung des „Revolvers“ aus Holz hervor – und richtete das Mini-Ding, offenbar zur Veranschaulichung der damaligen Situation, direkt über den Kopf des Anklägers hinweg in Richtung Anklagebank. Der Angeklagte wandte seinen Kopf sofort ab.

Der Verteidiger Michael Emde indes nannte es „frech bis zynisch“, von seinem Mandanten damals zu verlangen abzuwarten, ob der Rentner nun schießt oder nicht.

Der 74-Jährige litt seit langem unter einer Psychose; was der Angeklagte nicht wusste. Bachmann hält es für möglich, dass ein Fall von „suicide by cops“ vorliegt – ein vorsätzlich provozierter Todesschuss durch die Polizei.