Bochum. 2018 erschoss ein Polizist in Bochum einen Rentner, der ihn mit einer Revolver-Attrappe bedroht hatte. Jetzt hat der Gerichtsprozess begonnen.

Anfangs war es ein Routineeinsatz. Tagesgeschäft für die Polizei in Bochum. Doch diesmal gab es ein furchtbares Ende. Ein Anwohner starb durch drei Schüsse – abgefeuert von einem Polizeibeamten, der sich seit Mittwoch vor dem Landgericht verantworten muss. Im Fokus: ein Feuerzeug in Form eines Revolvers. Notwehr oder Totschlag? Die juristische Aufarbeitung wird von Polizei- und Justizbehörden in ganz Deutschland verfolgt.

Das Drama ereignete sich am Abend des 16. Dezember 2018 in Altenbochum. Wie schon häufiger zuvor, allein dreimal an diesem Tag, alarmieren Mieter eines Mehrfamilienhauses an der Velsstraße die Polizei. Ein Rentner habe das Radio laut aufgedreht. Klingelschilder seien abgerissen worden, teilt ein Anrufer mit.

Anklage gegen Polizeibeamten: Routineeinsatz eskalierte

In der Wache Südost an der Universitätsstraße macht sich eine Streifenwagenbesatzung auf den Weg. Ausnahmsweise mit dabei: der Dienstgruppenleiter. Er habe seine beiden Kollegen unterstützen wollen, sagt der 38-jährige. Sicher ist sicher.

Vor Ort steht der Rentner (Polizeideutsch: „Störer“) vor der Haustür. Ruhig. Entspannt. Während die Streifenbeamten ins Haus gehen, um mit dem Anrufer zu reden, spricht der Polizeihauptkommissar den 74-Jährigen an, lässt sich den Ausweis zeigen. Siehe oben: Routine. Keine Gefahr in Verzug.

Drei Schüsse auf den Oberkörper

Was folgt, gibt der 38-Jährige zum Prozessauftakt ruhig und souverän so wieder: Der Rentner wird plötzlich renitent, ballt die Fäuste, sagt, er wolle in eine Spielhalle, versucht wegzulaufen. Der Polizist hält ihn fest. Der Senior nestelt am Hosenbund, aus dem ein metallener Griff ragt. Ein Messer, wie der Hauptkommissar mutmaßt. „Lassen Sie das!“ und „Finger weg von dem Messer!“, habe er mehrfach gerufen. „Das ist kein Messer“, habe der Mann entgegnet. „Das ist ‘ne Knarre.“

Rentner litt an psychischen Störungen

Ein Freund der Familie beschreibt den 74-jährigen Rentner als psychisch auffällig. Er habe die letzten 30 Jahre unter seelischen Erkrankungen gelitten. In den letzten Monaten sei er von einer Psychose und Angstzuständen heimgesucht worden und habe alle Kontakte abgebrochen.

Ob und in welchem Maße die psychischen Störungen der Polizei bekannt gewesen sind, sollen die kommenden Prozesstage ans Licht bringen.

Allen Warnungen zum Trotz habe der Rentner die vermeintliche Waffe gezogen und auf den Polizisten angelegt. „Ich habe in den Lauf gesehen und gedacht: Jetzt muss der nur noch den Finger krumm machen“, schildert der 38-Jährige, der zunächst ein Pfefferspray gezückt hatte. In Sekundenbruchteilen habe er entschieden: Das Spray reicht nicht! Er zieht seine Dienstwaffe, zielt auf den Oberkörper des Rentners und drückt aus gut drei Metern Entfernung dreimal ab, in kürzester Reihenfolge, wie sich seine Kollegen erinnern: „Bumm Bumm Bumm, wie bei einem Feuerwerkskörper.“

Vor dem Wohnhaus des Rentners wurde kurz nach den tragischen Geschehnissen eine Kerze entzündet.
Vor dem Wohnhaus des Rentners wurde kurz nach den tragischen Geschehnissen eine Kerze entzündet. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Angehörige erzwingen Hauptverhandlung

Obwohl die Beamten sofort versuchen, den 74-Jährigen wiederzubeleben, stirbt er noch am Tatort. Schnell wird klar: Der vermeintliche Revolver ist eine Attrappe; ein täuschend echt aussehendes Feuerzeug, wie es im Internet bestellt werden kann.

Die Staatsanwaltschaft nimmt die obligatorischen Ermittlungen auf, stellt das Verfahren aber Mitte 2020 ein. Notwehr, eindeutig, so das Urteil. Doch die Hinterbliebenen legen Einspruch ein und erwirken eine Hauptverhandlung. Die Anklage lautet auf Totschlag. Dass die „Waffe“ nicht echt war, spielt keine Rolle. Sehr wohl aber der Vorwurf, dass es nicht des dritten Schusses bedurft hätte. Schon nach den ersten beiden Schüssen sei ihr Vater wehrlos zusammengesunken und hätte möglicherweise gerettet werden können, glauben die drei Söhne, die wie ihre Mutter als Nebenkläger auftreten.

Anwalt drängt auf vollständige Aufklärung

Der Hauptkommissar werde „angeklagt, einen Menschen getötet zu haben, ohne ein Mörder zu sein“, erklärte die Staatsanwaltschaft am Mittwoch zum Prozessbeginn. „Mir blieb nichts anderes übrig“, beteuert der Familienvater, der von seinen Kollegen als besonnen, korrekt und sachlich charakterisiert wird. Seit Erhebung der Anklage im November 2020 ist er vom Dienst freigestellt ist. Ein Freispruch sei die einzige Option, sagt sein Rechtsanwalt Michael Emde. Der Anwalt der Söhne drängt „auf vollständige Aufklärung, auch, damit die Angehörigen damit abschließen können“.

Der Prozess wird am Freitag fortgesetzt.