Bochum. Am Schauspielhaus Bochum deutet Johan Simons das Shakespeare-Drama als Konflikt der Generationen. Die Aufführung fordert viel und gibt viel.

Mit „King Lear“ von William Shakespeare liefert das Schauspielhaus Bochum das Stück zur Krise. Zwar geht es in dem Drama nicht dezidiert um Corona, aber um viele Negativ-Erfahrungen, die man nicht nur in der Weltpolitik, sondern auch im Alltag machen kann: Machtlosigkeit, Unsicherheit, Kontrollverlust. Hybris und Untergang. Johan Simons Inszenierung des 400 Jahre alten Dramas ist so gegenwartsbezogen, dass es wehtut.

Am Ende des Weges angekommen

Im corona-bedingt auf 170 Plätze reduzierten Großen Saal ist ein radikaler Bruch mit der „Lear“-Tradition zu erleben. Hier wird keine Romantik mehr beschworen, in der ein Greis alles verliert, sein Reich, seine Töchter, seine Haltung, der also einen schicksalhaften Untergang erlebt. Vielmehr lenkt Simons den Blick auf die Eigenverantwortlichkeit des alten Königs – ist es nicht sein ureigenes Handeln gewesen, für das er nun, am Ende seines Wegs, bezahlen muss?

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Zwar hat er die Macht, die ihn trieb und korrumpierte, losgelassen. Doch was kommt danach? Nichts als Leere? Das ist die entscheidende Frage. Eine alte Ordnung zerfällt, aber eine neue, tröstlichere vielleicht, ist noch nicht da.

Der Wahnsinn als der Anfang von Etwas

Der Wahnsinn, der Lear packt, ist für Johan Simons der Beginn, nicht das Ende von Etwas. Er schält den Generationenkonflikt heraus, in dem eine väterliche Autorität zerbricht, aber die Vater-Kind-Beziehung weiter ungeklärt bleibt. Dabei sind es die rigiden patriarchalischen Strukturen selbst, die Liebe und Verzeihen verhindern.

Videoprojektionen sind allgegenwärtig. Sie ziehen in die Aufführung einen doppelten Boden ein.
Videoprojektionen sind allgegenwärtig. Sie ziehen in die Aufführung einen doppelten Boden ein. © JU Bochum

Auf Johannes Schütz’ Bühne zieht sich hinter einem schwarzen Erd- und Grabhügel (Lears „schönes Reich“) eine Wand mit eingeschnittenen Öffnungen hoch. Durch sie blicken die Zuschauer in einen Wartesaal, in dem die Schauspieler sitzen, beständig von einer Kamera belauert.

Hoch komplexe Aufführung

Das erzeugt Doppelbödigkeiten, Überblendungen, es gibt Männer in Frauenrollen und umgekehrt, Tote sind tot und im nächsten Moment doch wieder lebendig: Die Inszenierung ist hoch komplex, nichts ist Zufall, alle Ideen und Effekte dienen der gesteigerte Intensität einer Aufführung, die man sich sicher zwei- oder drei Mal ansehen kann und immer neue Nuancen entdecken wird.

Nicht jeder goutiert so etwas, denn es macht den Abend anstrengend, man darf nicht eine Sekunde in der Aufmerksamkeit nachlassen. Dazu kommt, dass man die Schauspieler – trotz Mikroports – nicht durchgehend gut versteht. Einmal mehr gilt: Simons fordert viel von seinem Publikum, aber dafür ist er bekannt. Und dazu steht er.

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Solch’ ambitioniertes Regiekonzept kann nur aufgehen, wenn man über extrem gute Schauspieler verfügt. Bochum hat sie! Pierre Bokma verleiht der Titelfigur eine bissig-traurige Würde, ist eher ein rüstiger Rentner als ein Tattergreis, wie ihn etwa Minetti gezeigt hat. Anna Drexler meistert ihre Doppelrolle als Cordelia und Narr mit einer frischen Jugendlichkeit, die dem ansonsten eher statischen Geschehen – auch auf der Bühne gelten die Corona-Abstandsregeln – etwas Irrlichtendes verpasst.

Steven Scharf spielt groß auf

Ganz groß ist Steven Scharf als Lord Gloster, der als einziger unter den Protagonisten Vergebung und Liebe zulassen kann und dafür einer furchtbaren Blendung unterzogen wird. Wie in dem Augenblick, als er sein Augenlicht verliert, das Licht sich wandelt, ist ein ganz starker Moment in einer Aufführung, die aufgrund einer bemerkenswert ausgeklügelten Videoregie (Lennart Laberenz) um optische Effekte nicht verlegen ist.

>>> Info: Die Vorstellungen im September und Anfang Oktober sind bereits ausverkauft, weitere folgen. Termine & Kartenreservierung: 0234 3333 5555.