Bochum. Die eben beendete zweite Spielzeit von Johan Simons am Schauspielhaus Bochum war einzigartig. Und das nicht nur wegen Corona.
„Die WAZ blickt auf eine Saison zurück, an die man lange denken wird.“ – Vor Jahresfrist war das der Titel einer Geschichte, welche die erste Spielzeit von Johan Simons ins Gedächtnis rief. Damals waren es die künstlerischen und „skandalösen“ Augenblicke (Herbert Fritsch! Marquis de Sade!), die damit gemeint waren. In diesem Jahr könnte man den Satz gleich nochmal drucken. Nur, dass er diesmal ganz anders aufgefasst werden müsste: Denn wahrlich wird man auch an die eben beendete, zweite Simons-Spielzeit noch lange denken. Sie war einzigartig. Und das nicht nur wegen Corona.
Große Premieren fielen ins Wasser
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Als das Theaterjahr im September mit dem üblichen Publikums-Gedränge beim sonntäglichen Eröffnungsfest losging, ahnte niemand Übles. Vielmehr freute man sich – die einen mehr, die anderen weniger – auf das, was da kommen sollte: Große Premieren des Intendanten (Iwanow, Woyzeck, King Lear), die Co-Produktion „HERBERT!“ von Herbert Fritsch und Herbert Grönemeyer, und nicht zuletzt das poetische Familienstück „Der kleine Roboterjungen“ im Advent.
Dazu regnete es Ehrungen. Sandra Hülle wurde „Schauspielerin des Jahres“, Jens Harzer ist der neue Iffland-Ringträger (bester Schauspieler der deutschsprachigen Bühnen) und Johan Simons’ „Hamlet“ erhielt eine Einladung zum Theatertreffen nach Berlin. Erstmals seit 20 Jahren war das Schauspielhaus beim Treffen der Besten wieder dabei! Das Schauspielhaus ging durch die Decke, nur der Himmel war die Grenze.
Wasserschaden über Weihnachten und Neujahr
Doch währte der Überschwang kaum drei Monate. Eben waren die Premiere vom „Roboterjungen“ absolviert („Langer Applaus für tolle Schauspieler und einen ungewöhnlichen Hauptdarsteller“, schrieb die WAZ) und eine Handvoll Aufführungen gespielt, da brach das Unbill über das Theater herein: Ein Rohrbruch setzte am 14. Dezember 2019 den Keller unter Wasser und die darin geschützt geglaubte Heizungsanlage und Klimatechnik außer Gefecht. Folge: Der Spielbetrieb im Großen Haus lag bis Mitte Januar lahm. Zwar konnten in der „Kammer“ noch Vorstellungen stattfinden, viele Premieren und Vorstellungen mussten aber abgesagt bzw. verschoben werden. Auch mit der beliebten Silvesterparty wurde es nichts.
Entsprechend aufgedreht waren nach der Zwangspause alle, als am 18. Januar 2020 das Große Haus mit Anton Tschechows „Iwanow“ (Regie: Johan Simons) wieder öffnete. Alle, Publikum, Theatermacher, Mitarbeiter und Schauspieler, waren „heiß“ aufs Weitermachen, und als die Inszenierung ein durchschlagender Erfolg wurde, schien alles gut zu sein.
Jens Harzer glänzt als „Iwanow“
Selten waren sich Publikum und Rezensenten so einig: Die Aufführung mit Jens Harzer in der Titelrolle ist ein großer Wurf.
Simons hob Tschechows 1889 entstandene Tragödie behutsam hoch und legte sie in der Gegenwart wieder ab. Das mürbe Lebensbild des alten Russlands wurde zur Folie der Existenzkrise des heutigen und des Menschen generell. Darüber hinaus bietet dieser vierstündige „Iwanow“ superbes Schauspielertheater mit einem großen, wunderbaren Ensemble. Theaterherz, was willst Du mehr?
Ja, und dann – kam Corona. Wie alle Spielstätten, musste auch das Schauspielhaus den Betrieb komplett einstellen. Mitte März war Schluss, die Bühnen blieben dunkel, die Theatermitarbeiter gingen in Kurzarbeit. Spätestens da war klar, dass die so erfolgreich angelaufene Spielzeit übel abstürzen würde. So kam es denn auch.
Übler Absturz, freier Fall
Corona und die gesellschaftlichen Folgen rückten das Bühnengeschehen an der Königsallee in den Hintergrund; auf einmal waren andere Dinge wichtiger als ausgerechnet die Kunst. Eine unhaltbare Situation, der das Schauspielhaus nach Kräften begegnete. So gab es Videobotschaften des Intendanten und kurze Szenen der Schauspieler, unvergesslich Sandra Hüllers einfühlsamer Beitrag, in dem sie als „Hamlet“ Shakespeare und Shutdown zusammenführte.
Alles schön und gut, aber das lebendige Theatererlebnis, das Knistern vor der Premieren, den Austausch im Foyer, die spannende Vorfreude des Publikums und seine Zuneigung zu den Schauspieler/innen, all das konnte das Internet in keinem Augenblick ersetzen.
Hygienestation statt Musentempel
Und auch die Bühnenkunst litt: Mitte Juni brachte Johan Simons eine Neufassung von Elias Canettis dystopischem Schauspiel „Die Befristeten“ heraus, wobei ins Große Haus, das sonst 820 Plätze bietet, jeweils nur 50 Zuschauer eingelassen wurden. Überall herrschte Maskenpflicht, das Theater glich eher einer Hygienestation denn einem Musentempel. Dennoch gelang der Abend künstlerisch. Im ausgeräumten Umfeld des weiten Saals und der leeren Bühne lieferte das Ensemble „auf Abstand“ eine konzentrierte Leistung ab, wenn auch jenseits einer wie auch immer gearteten Theater-Normalität.
Niemand weiß, wie es im Herbst aussieht
Wie groß die Ernüchterung war und ist, wurde schließlich bei der Programmvorstellung für die kommende Spielzeit deutlich; es war der letzte „Programmpunkt“ in diesem zweiten Simons-Jahr. Falls der Betrieb, keiner weiß heute exakt wie und welcher Form, im Herbst 2020 wieder losgeht, wird nichts sein, wie es mal war. Die Corona-Einschränkungen werden weiter gelten, verbindliche Aussichten bleiben unklar, Prognosen traut sich keiner zu. Daher gibt es für die Saison 2020/21 bisher auch nur einen Halbjahresspielplan. Wer weiß, wie viele Vorstellungen sonst wieder ausfallen müssten?
So wie in dieser verflixten, unvergesslichen Spielzeit.