Bochum. Das Schauspielhaus Bochum ist eine der wenigen NRW-Bühnen, die in der Corona-Krise öffnet. Bei “Die Befristeten“ blieben reichlich Plätze leer.
Mit der Premiere von Elias Canettis Drama „Die Befristeten“ öffnete das Schauspielhaus Bochum nach 13 Wochen Corona-Shutdown am Mittwoch, 10. Juni, erstmals wieder seine Türen. Es wurde ein denkwürdiger Theaterabend.
„Die Befristeten“ spielt in einer dystopischen Zukunft, in einer Gesellschaft, in der jeder exakt weiß, wie lange er zu leben hat. Der eigene Name zeigt es an: „88“ oder „50“ heißt man – oder auch nur „10“. Jeder kann sich darauf einstellen. Wer alt wird, genießt Privilegien, wer jung sterben wird, bleibt niedrig gestellt.
Ungewohnte Bedingungen in Bochum
Wächter über diese Ordnung ist der „Kapselan“. Allein er darf in die Kapseln schauen, die jeder um den Hals trägt und in denen Geburts- und Todesdatum eingeschlossen sind. Eine statische Gesellschaft mit voraussehbaren Karrieren und ohne Risiken. Bis ein Zweifler das System in Frage zu stellen beginnt.
Elias Canetti, Literatur-Nobelpreisträger 1981, hat Zeit seines Lebens gegen den Tod angeschrieben; ein Skeptizist, der sich nur widerstrebend der „Zumutung“ durch das Unvermeidliche beugte. Die Darstellung des Zerfalls ist eines der zentralen Themen seiner u.a. von Kafka beeinflussten Werke. Seine Dramen waren abstrakte Entwürfe dieser literarisch-philosophischen Idee, dem Absurden Theater nahe, in denen es (auch) um menschliche Machtgefühle aus der Konfrontation mit dem Tod und dem Erlebnis des Überlebens geht.
Inszenierung in "kontaktlosen" Zeiten
Kein leicht verdaulicher Stoff, dazu kommt der mentale und praktische Druck der Corona-Krise, die unmittelbar auf den Theaterabend durchschlägt. Johan Simons hat „Die Befristeten“ in „kontaktlosen“ Zeiten in einem umgebauten Schauspielhaus inszeniert, das mit seinen ausgedünnten Stuhlreihen und großen Leerflächen nachgerade unheimlich, um nicht zu sagen: gespenstisch wirkt. Die nur 50 (statt 800) zugelassenen Zuschauer sitzen, Masken über Mund und Nase, auf Distanz, die neun Schauspieler/innen bewegen sich auf Abstand durch den riesigen Saal und auf der Bühne.
Das fordert ein intensives Einlassen-Müssen auf das Spiel und die verstörenden Inhalte des Stücks, was dem Publikum wie den Akteuren eine große Konzentrationsleistung abverlangt. Doch die Mühe lohnt sich.
Über Vertrauen und Misstrauen
Denn Simons legt zentrale Themen wie Wert des Alters, Nähe und Vereinzelung, Vertrauen und Misstrauen frei. Wer die Arbeiten des Bochumer Intendanten kennt, weiß, dass er von vornherein keine launige „Corona-Bewältigung“ im Sinn hatte. Vielmehr eröffnet seine 90-minütige, vollwertige Inszenierung, obwohl in extrem kurzer Probenzeit entstanden, ein Menschheitskaleidoskop in fahlen Farben, das uns über den Umgang mit dem Tod und die Bedingungen unseres von der Pandemie eingeschränkten Alltags nachdenken lässt. Dabei fehlt es nicht an Querverweisen, auch über die Maskenpflicht hinaus.
So eröffnet Simons den Abend höchst raffiniert: Als Prolog werden die technischen Möglichkeiten der Bühne vorgeführt: Seile fahren vom Schnürboden auf und nieder, Gestelle rattern rauf und runter, die Böden bewegen sich, ein Riesenventilator brummt: eine stumm-beredte Menagerie des Technischen, die belegt, dass Theater ohne Menschen sinn- und seelenlos ist: Schönen Gruß ans Virus!
Das Ensemble spielt hervorragend
„Die Befristeten“ lebt dazu von der ausgezirkelten Choreografie des wieder einmal hervorragend aufspielenden Bochumer Ensemble, das sich der Melange aus Farce und Todesspiel hingebungsvoll widmet, wobei Jing Xiang als "Kapselan“, Stefan Hunstein als Renegat „50“ und Anne Rietmeijer als „Trauernde“ herausragen.
Ob „Die Befristeten“ in die nächste Spielzeit übernommen werden, ist ungewiss. Die klar positionierte Inszenierung hätte es verdient: Theater als Ort der Aufklärung und der Selbstbesinnung, ein Gegengift gegen die Angst in Zeiten der Pandemie, aber auch gegen die immer irrer sich gebärdende Spaßgesellschaft. Genau dafür brauchen wir die Kunst und die Bühne.
>>> Info zum Spielplan
Das Schauspielhaus Bochum fährt bis zum offiziellen Spielzeitende am 28. Juni einen reduzierten Spielplan unter Corona-Beschränkungen.
Neben "Die Befristeten" werden "Asche zu Asche" von Harold Pinter und die Kleist-Neudeutung "Penthesilea" mit Sandra Hüller und Jens Harzer gezeigt.
Die kostenlos angebotenen Vorstellungen sind bereits sämtlich ausgebucht.