Bochum. Politisches Theater, herausfordernde Stücke und ein „Bühnenskandal“: Die erste Spielzeit von Johan Simons am Schauspielhaus hatte es in sich.
„Hamlet“ ist eine Frau, mit dem Marquis de Sade wird durchs Schlüsselloch ins „Boudoir“ (Schlafzimmer) gelugt, und 13 junge Mädchen gewähren Einblicke in die Welt der Heranwachsenden - die erste Spielzeit von Johan Simons am Schauspielhaus hatte es in sich. Die WAZ blickt auf eine Saison zurück, an die man lange denken wird.
2019/20 bescherte dem Schauspielhaus enorme Aufmerksamkeit - drei dicke Ordner mit Presseberichten stehen im Dramaturgiebüro. Regional und überregional war das Theater Top-Thema, in einer Umfrage der „Welt am Sonntag“ bekam das Haus mit Abstand die besten Noten und wurde zum „Theater der Saison“ in NRW gekürt. In Bochum selbst blieb die Neuausrichtung umstritten. Es gab reichlich Abo-Kündigungen, am Ende lag die Zuschauerquote bei 70,1 %. Es ist also noch Luft nach oben. Gleichwohl geht die Umsteuerung des Stadttheaters weiter, das mit Attributen wie „jung, international und hoch politisch“ die Szene rockt und die Zukunft gewinnen will.
Intendant Johan Simons steuerte allein sieben (!) Bühneninszenierungen bei, gleich zum Auftakt warf er sich mit Feuchtwangers „Die Jüdin von Toledo“ ins Feuer: Christentum, Judentum, Islam, eine unmögliche Liebesgeschichte und politische Unordnung sind die Themen; das Ende ist hoffnungslos: kann keine Liebe sein. Sparsam ausgestattet und nach hinten raus mit brachialer Lust an der Zerstörung, ist der Abend ein Abenteuer, das einen durchschüttelt.
Letzteres lässt sich für so gut wie alle Simons-Stück reklamieren: Michel Houellebecqs „Plattform“ und „Unterwerfung“ oder Lot Vekemas „Judas“ sind Stoffe, die theatermächtig ‘rüberkommen, die aber das Zurücklehnen verbieten und schon gar nicht Erheiterung hervorrufen. Präzise, leichthändig, mit schillernden Brechungen eingerichtet, überzeugen ebenso „Hamlet“ oder „Penthesilea“, beide mit Sandra Hüller in der Hauptrolle, die zu DER Schauspielerin der Saison wurde.
Starke Akzente
Fürs Unterhaltsame war Herbert Fritsch mit „Murmel Murmel“ zuständig; das Nonsens-Sprechstück sorgte für Lachsalven und lief beständig vor ausverkauften Haus. Mit „Die Philosophie im Boudoir“ nach Marquis de Sade versuchte Fritsch es nochmals - und scheiterte krachend. Vom „Bochumer Theaterskandal“ war zwischenzeitlich sogar die Rede, Teile des Publikums verließen die Vorstellungen oder kamen gar nicht mehr - angesichts dieser zwar hoch ästhetischen und darstellerisch kräftigen Aufführung, die allerdings für Viele ein Zuviel an Pornografie auf die Bühne hievte, wenn auch nur sprachlich und ohne jede Nacktheit.
Starke Akzente setzten die Gastregisseure. Benny Claessens lieferte in der Zeche 1 mit „White People’s Problems/The Evil Dead“ einen so wahnwitzigen wie bluttriefenden Abgesang auf das Theaterverständnis der „alten, weißen Männern“ ab, Julia Wissert machte in den Kammerspielen mit ihrer mit Jugendlichen erarbeiteten Science-Fiction-Performance „2069“ nachdrücklich klar, warum sie zu den kommenden Regiestars zählt.
Poetisch und politisch
Und Lies Pauwels „Hamiltonkomplex“, in dem besagte 13 dreizehnjährige Mädchen die Wunden und Wunder der Pubertät durchlieben und -leiden, mauserte sich gar zum heimlichen Hit der Saison. Mitreißendes Theater, poetisch und politisch zugleich.
Keine Schenkelklopfer
„Poesie und Politik“ mag man generell als Motto über Simons’ Auftaktsaison stellen. Das neue Schauspielhaus will sein Publikum begeistern, aber keinesfalls unterfordern. Entertainment gibt’s hier nicht, keine Schenkelklopfer, nicht mal gehobenen Boulevard. Manche Zuschauer vermissen das, und nur so erklärt sich, dass das Weihnachtsstück „Alle Jahre wieder“ (Regie: Hannah Biedermann), das mehr eine abstrakte Ideen-Collage zum Thema „Familienfeste“ als ein Spielstück war, komplett durchfiel.
Infos zum Theater
Das Schauspielhaus gehört zu den renommierten Theatern in Deutschland. Die Gründung erfolgte vor 100 Jahren: 1919 bekam das Stadttheater erstmals ein eigenes Schauspielensemble unter Intendant Saladin Schmitt.
Nach Kriegsschäden entstand 1953 auf den alten Fundamenten das heutige Schauspielhaus nach den Entwürfen des Architekten Gerhard Graubner. Das unter Denkmalschutz stehende Gebäude erhielt die Plakette „Als vorbildliches Bauwerk seiner Zeit ausgezeichnet. (1945–1957)“, die an der Fassade zur Königsallee hängt.
Intendant ist seit der Spielzeit 2018/19 der holländische Theatermacher Johan Simons (*1946), der Anselm Weber (*1964) nachfolgte.
Und auch Tobias Staabs „O, Augenblick“, die Jubiläumsproduktion zum 100. Theatergeburtstag, fand nicht nur Freunde. In postmoderner Theatermanier wurden die Intendanzen von Schmitt bis Haußmann nicht als Doku-Theater nacherzählt, sondern wie in einem Kaleidoskop knalliger Kapriolen neu zusammengefügt, Computerclip-Ästhetik und Genderthematik inklusive.
Viel Gesprächsstoff
Man kann dem neuen Schauspielhaus manches vorwerfen, eines sicher nicht: Dass es das Publikum kalt ließe. Die Spielzeit zeigte: das Bochumer Theater sorgt wieder für Gesprächsstoff.