Bochum. Der Liederabend „O, Augenblick“ feiert umjubelte Premiere. Gut aufgelegte Darsteller und ein superber Live-Soundtrack machen dem Theater Ehre.
Bei der Uraufführung von „O, Augenblick“ stand das 100 Jahre alte Schauspielhaus als „Geburtstagskind“ noch mehr im Mittelpunkt als sonst. Mit einer feinen Inszenierung wurden die Theatermacher dem großen Anlass gerecht.
Geschichte häppchenweise
Im Vorfeld waren sehr viele Bühnenfans sehr neugierig, wie Regisseur/Autor Tobias Staab und der musikalische Mastermind Torsten Kindermann die Sache wohl angehen würden. 100 Jahre bloß nachzuerzählen, das kam ja wohl nicht infrage! Nein. Vielmehr wurden Bochumer Theatergeschichte und -geschichten in viele kleine Häppchen zerlegt, die sich am Ende doch zu einem Gesamtbild rundeten.
Erheiternd mit Tiefgang
Die Intendanz Johan Simons’ gilt ja als nicht leicht zugänglich, heiteres Amüsement hat der neue Theaterchef bekanntlich nicht im Köcher. Doch „O, Augenblick“ ist anders: die Aufführung ist leicht konsumierbar, sie ist erheiternd und kurzweilig, und doch gebricht es ihr an ästhetischer und aufklärerischer Wirkung nicht. So wird das Stück zu einer Echokammer dessen, was das Theater in 100 Jahren an Kraft und Weisheit, an Irrungen und Wirrungen, neuen Tendenzen und alten Zöpfen zu bieten hatte. Saladin Schmitts Klassiker-Wochen, Hans Schallas demokratisches Nachkriegstheater, der wunderbare Neubau 1953, Peter Zadeks Einführung der Wahl-Miete... tausende kleine und große Dinge werden angetippt und blühen als Erinnerung oder Erzählung in den Köpfen der Zuschauer auf. Das ist clever gestrickt, und obwohl der Abend (mit Pause) über drei Stunden in Anspruch nimmt, kommt nie Langeweile auf.
Starke Schauspieler!
Und dann das Ensemble! Super, wie sich die junge Multikultitruppe der Herausforderung stellt, nicht Geschichte(n) zu bebildern, sondern einfach draufloszuspielen – schließlich sind sie Schauspieler! Deutlich wurde, welche Möglichkeiten sich durch die Internationalität des Ensembles ergeben, man denke an die köstliche Szene, in denen die farbigen Aktrices Mercy Dorcas Otieno und Romy Vreden in knallbunten Kleidern als „Claus Peymann“ und „Fräulein Schneider“ reüssieren.
Oder an Jing Xian, die deutsch-chinesische Darstellerin, die eine im Wortsinn umwerfende Slapstick-Hommage an Tana Schanzara hinlegt, über die die Revierduse selbst würde Tränen gelacht haben. Klasse auch Georgios Tsivangoglou als Moderator, der dann als griesgrämiger „Frank-Patrick Steckel“ noch eins drauf setzt.
Zehn Minuten Applaus
Der Schlussapplaus ging wohl zehn Minuten, es gab zwei Zugaben, wobei der „Kleiner Mann, was nun?“-Song von Peer Raben (aus der 1972er Zadek-Inszenierung) wiederholt zu Ehren kam. Überhaupt die Musik: Was Kindermann und die bewährte Schauspielhaus-Band abliefern, ist die Basis, auf der alles andere aufbaut. Auch die „Bochum“-Hymne in neuem Arrangement fehlt nicht.
Auf die nächsten 100!
„Trinken wir auf ein gutes Gestern und auf ein besseres Morgen“, hieß es am Ende. Gern: Auf Dein Wohl, hochverehrtes Schauspielhaus! Und auf die nächsten 100 Jahre.
>>> Das sagen die WAZ-Theaterscouts:
Yonne Mölleken: „Mit ,O, Augenblick’ erscheint auf dem Programm dieser Saison ein Stück, das einen unterhaltsamen, unbeschwerten, bunten Abend garantiert, der allerdings einen enttäuschend abrupten Abschluss erfährt, da die Geschichte des Schauspielhauses nur bis zur Intendanz von Leander Hausmann angerissen wird. Unterhaltsam ist die Vorstellung für alle, die die Persönlichkeiten der einzelnen Intendanten miterlebt haben, aber ein Genuss ist sie auch für alle, die musikalische und tänzerische Darbietungen lieben und gern lachen. Bei Bühnenbild, Musik, Tanz und Witz wurden alle Register gezogen. Großer Applaus.“
Edgar Zimmermann: „Ein tollkühner musikalischer Ritt mit der Musiktruppe der vergangenen Intendanz durch die Geschichte des Schauspielhauses, historisch und hysterisch mit grandioser multikulti Besetzung. Ein paar Seitenhiebe auf die Nazizeit werden nicht ausgespart, ebenso ein paar lehrreiche Gedanken zur architektonischen Idee der Nachkriegsbauplanung. Junge Menschen lernen mit modernen Stilmitteln viel zur Vergangenheit des Hauses und alte Theatergänger finden viele Anknüpfungspunkte, müssen aber offen für eine neue Theaterästhetik offen sein. Alles in Allem mal wieder ein ganz ungewöhnlicher Abend!“
Astrid Hagedorn: „Eine Hommage auf das Bochumer Theater. Wo sind sie hin, die vergangenen 100 Jahre? Wie schnell alles ,Geschichte’ ist, wird bei dem Ritt durch die einzelnen Etappen der Intendanzen präsentiert … aus Recherchen, Eigenschaften, Stilrichtungen und vielen alten und neuen Songs entsteht eine Theaterhistorie, ein Musikabend, der die Unmöglichkeit feiert, das Vergangene zurückzuholen. Die Komposition sprach an (zwei Zugaben!). Die Kostüme, die genialen Musiker, die immer mitten im Geschehen sind, eine Kunst, die sich nicht festhalten lässt und grade deswegen so viel Ausdruck in sich trägt. Danke!“