Bochum. . Mit „Istanbul“ gelingt Regisseurin Selen Kara in den Kammerspielen prächtiges Gute-Laune-Theater. Unbequeme Fragen werden besser nicht gestellt.
- Beim zweiten Premierenwochenende im Schauspielhaus geht es weitaus beschwingter zu als beim ersten
- Songs des türkischen Superstars Sezen Aksu stehen im Mittelpunkt einer leichten, quirligen Aufführung
- In der Rolle des deutschen Gastarbeiters Klaus glänzt der Schauspieler Roland Riebeling
Nach dem eher ernsten Auftakt der neuen Theaterleitung von Olaf Kröck geht es am zweiten Premierenwochenende im Schauspielhaus weitaus beschwingter zu: Mit „Istanbul“ stimmt die junge Regisseurin Selen Kara ein Hohelied auf die deutsch-türkische Freundschaft an, das so gut gelaunt daher kommt, dass es am Ende niemanden mehr auf den Sitzen hält. Stehende Ovationen und ein ausgelassen tanzendes Publikum: Gut möglich, dass hier gerade ein neuer Renner auf dem Spielplan steht.
Die Geschichte, die Selen Kara mit dem Autor Akin E. Sipal verfasst hat, ist pfiffig, aber auch schnell erzählt. Bei ihnen sind es die Deutschen, die in den 60er Jahren in die blühende Türkei auswandern, um dort als Gastarbeiter die Chance auf ein besseres Leben zu suchen. Diese charmante Idee einer Geschichtsverdrehung wird so keck wie konsequent illustriert.
Klaus ist eine Paraderolle für Roland Riebeling
So lässt der arme Klaus seine Frau Luise und das Kind in Bochum zurück und macht sich auf den Weg an den Bosporus – in ein Land, in dem er kein Wort versteht, das völlig andere Sitten kennt und ihm zunächst völlig zuwider ist. „Lieber Hunger leiden in Bochum als ein König in der Fremde“, jammert er.
Für Roland Riebeling ist der Klaus eine Paraderolle: Hilflos und mit großen Augen trägt er seinen Koffer spazieren und fragt im Publikum nach dem Weg. An der Schufterei in der Fabrik verzweifelt er, an der Einsamkeit in seinem winzigen Zimmer geht er beinahe zugrunde. Dass Selen Kara hier auch ernste Töne anschlägt, ist ein großes Plus dieser ansonsten sehr leichten, quirligen Aufführung.
All dies gipfelt in einer grandiosen Szene, in der Klaus vom türkischen Tee endgültig die Nase voll hat und sich hartnäckig „anständigen deutschen Filterkaffee“ wünscht, der auf der Stelle („Und zwar zack-zack!“) in seinem VfL-Becher landen soll.
Rassismus und Fremdenhass wird ausgeklammert
Ein Glück findet Klaus im amüsanten Knall der Kulturen schnell einen Verbündeten. Ismet (klasse: Daniel Stock) führt ihn und die Zuschauer durch die neue Welt. Sogar eine Liaison mit Ela (Raphaela Möst) bahnt sich an. Überhaupt trifft Klaus in der Fremde nur ausgesprochen nette, höfliche Menschen. Jedes Problem wird direkt mit einem Raki herunter gespült.
Mögliche Ressentiments gegenüber Ausländern klammert Selen Kara völlig aus, von Rassismus oder Fremdenhass, denen Türken in Deutschland seit den 60er Jahren begegnen, ganz zu schweigen. Je mehr sich Klaus in seinem neuen Leben einrichtet, desto mehr verkommt „Istanbul“ somit zu einem wenig mutigen Rührstück, das mehr auf gute Laune setzt, statt auch unbequeme Fragen zu stellen.
Die Songs sind alle auf türkisch, gesungen von Deutschen
Die heimliche Hauptdarstellerin des Abends ist gar nicht anwesend: Vom türkischen Superstar Sezen Aksu stammen sämtliche Songs, die von der souveränen Band unter Leitung von Torsten Kindermann gespielt werden. Die Schauspieler singen die Lieder auf türkisch. Wie sie sich ohne Kenntnis der Sprache all die Texte drauf geschafft haben, ist eine enorme Leistung.
Zum kalkulierten Zauber dieser Aufführung gehört die ungewöhnliche Sitzanordnung. Teile des Publikums nehmen auf Bänken vor und auf der Bühne Platz und werden mit Tee und Gebäck verköstigt. Die Stimmung steigt mit jedem Song, was schließlich dazu führt, dass Zuschauer, Musiker und Schauspieler gemeinsam auf der Bühne im Kreis tanzen. Wann hat es das zuvor jemals gegeben?
Termine: 29.10., 8., 10., 11., 22. und 29.11., Karten unter 0234/ 33 33 55 55.