Bochum. . In den 1980er Jahren blühte die Musikstadt Bochum auf. Geier Sturzflug brachten es zu einem Nummer-1-Hit – und sorgten für einen TV-Skandal...
Weiß der Geier, was Friedel Geratsch Ende der 1970er Jahre geritten hat, ausgerechnet den sperrigen Wirtschaftsfachbegriff „Bruttosozialprodukt“ zum Titel eines Pop-Songs zu machen.
Gewiss ist: Das Ding ging mit Verspätung ab wie eine Rakete, katapultierte Geier Sturzflug 1983 für mehrere Wochen an die Spitze der Hitparade – und markiert bis heute einen Höhepunkt einer ebenso bewegten wie bewegenden Dekade in der Musikstadt Bochum.
Musik liegt in den 1980ern in der Bochumer Luft
Der Kanzler heißt Schmidt, die Mädels Sabine und Susanne, die Jungs Thomas und Michael, der OB Heinz Eikelbeck, als sich Bochum Anfang der 80er Jahre aufmacht, den Staub der Bergbau-Ära endgültig abzuschütteln und sich ein Stück weltläufigen Glanzes, ja Ruhmes einzuverleiben.
Das Schauspielhaus ist längst etabliert. Nun liegt auch Musik in der Luft. Die Zeche öffnet 1981 und wird bald mit Größen wie Depeche Mode, Simply Red, Tina Turner, Paul Young oder den Toten Hosen protzen. Herbert Grönemeyer manifestiert die Postleitzahl 4630 mit seinem „Bochum“-Album 1984 als republikweit bekanntes Markenzeichen.
Fritz Brause reüssiert 1985 mit dem herrlich chilligen „Shilly Shally“, bevor in der Innenstadt 1986 ein ambitioniertes Kleinkunstfestival namens „Bochum Total“ seine zarten Anfänge nimmt.
Marius und Udo im Ruhrstadion
Bis zu 40.000 Fans feiern bei Friedens- und Deutschrockkonzerten im Ruhrstadion ihre Helden von Marius Müller-Westernhagen über Udo Lindenberg bis – klar doch – unser aller Herbie.
Und gleich nebenan geht 1988, begleitet von heftigen Widerständen der Bochumer „Hochkultur“, das Musical Starlight Express an den Start. Wohl jeder wäre für verrückt erklärt worden, der behauptet hätte, dass der Dauerläufer 2018 auf sein 30-jähriges Bestehen mit über 16 Millionen Besuchern zurückblicken kann.
Friedel Geratsch ist der Sternenstaub schon damals schnuppe. „Ich hasse Musicals“, tönt der 66-Jährige, der in den 70er Jahren in der linksalternativen Szene aktiv ist, mit Reinhard Beierle als Duo „Dicke Lippe“ bei Hausbesetzungen und Anarcho-Feten Mucke macht – und 1977 mit „Bruttosozialprodukt“ eine flott-freche Parodie auf des Deutschen Arbeitsmoral textet und komponiert. „Ich wusste sofort: Das Ding hat Potenzial“, erzählt Geratsch im WAZ-Gespräch.
„Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt!“
Doch erst mit dem Namen Geier Sturzflug und dem Aufbranden der Neuen Deutsche Welle (der sich die Bochumer nie wirklich zugehörig fühlten) schallt es 1983 durch die Diskotheken und Kellerbars: „Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt!“ Skandal (nein, nicht den um Rosi) inklusive: In der ZDF-Hitparade wandeln die Geier den Text um.
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Statt „und am Mittwoch kommt die Müllabfuhr und holt den ganzen Plunder“ heißt es live und in Farbe: „und am Mittwoch kommt die Müllabfuhr und holt sich einen runter.“ Dieter Thomas Heck gilt fortan nicht eben als größter Fan der Spontis...
Bruchlandung vor BO-Total
Die Geier fliegen hoch. Der Sturz ist tief. „Als 1986 ,Bochum Total’ anlief, war bei uns schon Feierabend. Schade: Da hätte ich gerne mal gespielt“, sagt Geratsch und erinnert sich gut an die 80er in Bochum, seine Heimatstadt mit „vielen tollen und ambitionierten Künstlern“ im Dunstkreis der Zeche, manch weiterer Clubs und des erwachenden Bermudadreiecks, befeuert von Grönemeyers Erfolgen.
Bochumer schreiben in den 1980er Jahren Musikgeschichte
An die Popularität von Geier Sturzflug indes reichte später keine andere Bochumer Band heran. Frida Gold („Wovon sollen wir träumen“) immerhin kam den NDW-Poppern recht nahe.
Friedel Geratsch macht noch immer Musik. In Hessen, wo er seit vielen Jahren lebt, treibt er sein Projekt „Garage 3“ voran. Besonderheit: Die Gitarren werden aus Zigarrenkisten gebastelt. Was bleibt? „Ich wollte immer ein Volks-Musiker sein. Das ist mir mit ,Bruttosozialprodukt’ gelungen.“
Nicht nur damit. Geratsch saß 2017 vor dem Fernseher, als „Rock am Ring“ wegen einer Terrorwarnung unterbrochen wurde. Zehntausende Fans verließen das Festivalgelände. Friedlich. Fröhlich. Mit dem zweiten Sturzflug-Hit „Pure Lust am Leben“ auf den Lippen. „Ich konnte es kaum fassen. Mein Lied! 34 Jahre später!“
Bochum hat Musikgeschichte geschrieben. Die Geier kreisen weiter.
>> Multimedia-Chronik: Bochum von 1948 bis 2018
Dieser Artikel ist Teil des ProBO-Projektes „70 Jahre WAZ – 70 Jahre Bochum“. Unser Zeitstrahl Bochum70.waz.de bietet zu Nachrichten und Ereignissen, die für Bochum(er) zwischen 1948 und 2018 wichtig waren oder wurden, historische Filmaufnahmen, Fotos und die alten WAZ-Zeitungsseiten zum Durchblättern. Auf dem Spezial können Sie auch eigene Bochumer Stadtgeschichten und Fotos hochladen. Das erste Jahresthema der Multimedia-Chronik: die Gründung der WAZ in Bochum im Jahr 1948.