Essen. Bradley Wiggins verblüfft bei der Tour de France. Nach neun Etappen führt er deutlich vor Titelverteidiger Cadel Evans. Doch sein Aufstieg vom Bahnrad-Spezialisten mit drei olympischen Goldmedaillen 2004 und 2008 zum Gipfelstürmer bei der Tour ist ungewöhnlich. Die Doping-Frage begleitet ihn.

Als der britische Radprofi-Stall Sky einen Tag vor Beginn der 99. Tour de France zu seiner Pressekonferenz ins Mannschaftshotel nach Verviers einlud, mussten sich viele Reporter wegen der enormen Resonanz mit einem Stehplatz begnügen. Obwohl der amtierende Weltmeister, der wohl schnellste Fahrer des Tour-Feldes, Mark Cavendish, mit am Tisch saß, drehte sich im Frage-Antwort-Spielchen fast alles um den Mann neben Cavendish. Wenn der vermeintliche Tour-Topfavorit spricht, dann zückt die Weltpresse den Stift, dann klicken die Kameras. Und so verwunderte es nicht, dass der Mann mit den spindeldürren Armen und den ebenso breiten wie langen Koteletten sein Vorhaben verkündete, als erster Brite das Gelbe Trikot bei der Tour de France zu gewinnen.

Wiggins führt mit 1:53 Minuten vor Cadel Evans

Wiggins ist seinem Ziel schon sehr nahe gekommen. Nach seinem eindrucksvollen Erfolg am Montag auf der neunten Etappe im Zeitfahren führt der Engländer mit einem Vorsprung von 1:53 Minuten vor dem australischen Titelverteidiger Cadel Evans. So vorhersehbar die Spitzenposition war, weil Wiggins in diesem Jahr schon die Etappen-Rennen Paris-Nizza, Tour de Romandie und Critérium du Dauphiné gewonnen hatte, so sensationell wäre eine solche Vorhersage noch vor sechs Jahren gewesen. Bei seinem Tour-Debüt war Wiggins nämlich nur 124. geworden. Mit einem Rückstand von 3:25 Stunden.

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Doch Wiggins kommt nicht aus dem Nichts. Als Bahnradfahrer holte er 2004 und 2008 drei olympische Goldmedaillen und gewann sechs Weltmeister-Titel. 2004 wäre er fast am Erfolg zerbrochen. Sechs Stunden täglich, so beichtete er, habe er nichts getan, als Bier zu trinken, um ewig auf Wolke sieben zu bleiben. Mit dem Saufen aufgehört hat er erst, als sein Sohn geboren wurde. Zum ausgefallenen Leben des Bradley Wiggins gehört auch die Geschichte seines Vaters Gary, ein früherer australischer Radprofi von durchschnittlichem Kaliber. In seiner 2008 erschienenen Biografie „In Pursuit of Glory“ (Auf der Jagd nach Ruhm) erzählt der 1980 im belgischen Gent geborene Bradley Wiggins, wie sein Vater Amphetamine in den Windeln seines Sohnes durch den Zoll geschmuggelt habe. Gary Wiggins starb 2008 in einem Krankenhaus im australischen Aberdeen. Passanten hatten ihn halbtot geprügelt auf der Straße gefunden.

Wiggins und die "fucking wankers"

Wiggins selbst beteuert, er habe niemals verbotene Mittel zu sich genommen. Auch wenn es keinerlei Hinweise gegen den Briten gibt, so muss er sich als Radprofi Fragen zum Doping gefallen lassen, zumal sein schneller Aufstieg vom Bahnrad-Spezialisten zum Gipfelstürmer alles andere als gewöhnlich ist. Der eloquente Wiggins, der gern zum schwarzen Humor seiner Heimat greift, tut es allerdings nicht gern. So platzte ihm am Wochenende der Kragen, als ihn ein Journalist auf die zahlreichen Skeptiker bei Twitter ansprach. Diese Leute seien „fucking wankers“, verdammte Wichser, fluchte Wiggins. Er könne sie nicht ertragen. Es sei leicht, anonym „diesen Mist“ zu schreiben. Das sei einfacher, als selbst „den Arsch hochzubekommen“.

Wiggins bekommt den Hintern noch höher, als es Radprofis ohnehin schon tun müssen. „Ich bin eine riesige Laborratte“, sagte Wiggins vor der Tour über sich selbst, „ich bin eine Spitzmaus von 1,90 Metern, die man unaufhörlich im Rad laufen lässt.“ Der Mann, der den nur 69 Kilo schweren Wiggins dazu antreibt, ist ein Quereinsteiger. Der Australier Tim Kerrison arbeitete nämlich vornehmlich mit Schwimmern, ehe er vor zwei Jahren die Radprofis vom Team Sky übernahm. Sklavenhändler nennen ihn die Fahrer wegen des immensen Trainingspensums, das er ihnen aufhalst.

Bisher kann der Schwimmtrainer mit seinem Radprofi zufrieden sein. „Die Einstellung von Bradley ist vorbildlich“, lobte Kerrison den Sky-Kapitän, „wenn man ihm einen Plan gibt, erfüllt er ihn hundertprozentig. Unser Ziel ist es, aus Bradley den besten Rouleur der Kletterer und den besten Kletterer der Rouleurs zu machen.“ Bisher ist es Bradley Wiggins gut gelungen. Heute geht es in die Berge.