London. . Für die meisten Athleten wäre die Goldmedaille bei den Paralympics der Höhepunkt – für Esther Vergeer ist der Sieg ein winziges Stück eines riesigen Puzzles. Die Niederländerin hat in London ihr 470. Spiel in Folge gewonnen. „Ich bin glücklich“, sagte Vergeer und lächelte.
Sie ballte ihre Faust, wie sie es immer tut, winkte eine Weile ins Publikum und packte dann ihre Tasche. 6:0 und 6:3 gewann Esther Vergeer das paralympische Finale im Rollstuhltennis gegen ihre niederländische Landsfrau Aniek van Koot. Sie umarmten sich, die vielen Holländer auf der Tribüne von Eton Manor klatschten höflich. Minuten später stand Esther Vergeer in der Interviewzone. Wieder ging es um das eine Thema: Wie fühlt es sich an, das Verlieren verlernt zu haben? „Ich bin glücklich“, sagte Vergeer und lächelte. Alles Routine.
Seit 2003 ungeschlagen
Für die meisten Athleten wäre die Goldmedaille bei den Paralympics der Höhepunkt – für Esther Vergeer ist der Sieg ein winziges Stück eines riesigen Puzzles. Die 31-Jährige hat in London ihr 470. Spiel nacheinander gewonnen, sie ist seit Januar 2003 ungeschlagen, hat 163 Einzeltitel gesammelt, vier Paralympics. Eine solche lange Dominanz hat es vermutlich noch nicht gegeben. Schon geht es für Zuschauer, Gegnerinnen und Vergeer vor allem um eine Frage: Wann endet diese Serie?
Seit einer missglückten Wirbelsäulen-Operation im Alter von acht Jahren ist Vergeer vom Unterleib abwärts gelähmt. Sie widmete sich früh dem Sport, verstand die Wettkämpfe als Rehabilitation. Mit 16 gewann sie im Team der niederländischen Rollstuhl-Basketballerinnen die EM. Bald darauf konzentrierte sie sich auf Tennis und entwickelte einen einzigartigen Stil: schnell, kraftvoll, elegant. Seit 1999 führt Vergeer die Weltrangliste an. Schon der zweite Platz könnte sich für sie wie das Ende der Welt anfühlen – oder wie ein Signal, doch kein Roboter zu sein.
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Esther Vergeer ist die Symbolfigur einer vorbildlichen Sportförderung. Die Niederlande kommen der Forderung der Vereinten Nationen nach, die statt Integration seit 2006 Inklusion von behinderten Menschen fordern – volle Teilhabe. Nichtbehinderte und behinderte Athleten trainieren in den Niederlanden seit 2007 in einem Verband. „Unsere Sportstätten sind barrierefrei, wir kümmern uns um Talente“, sagt Vergeer. Das Nationale Paralympische Komitee pflegt Partnerschaften zu Reha-Schulen, Vereinen, Wissenschaftlern. Kinder mit Behinderung sollen den Wert des Sports schätzen lernen. „Wenn sie erst mal dabei sind, bleiben sie bei uns.“
2500 Euro für einen Grand-Slam-Titel
Das Ergebnis lässt sich in London begutachten. Von den vier Spielerinnen in den Tennishalbfinals stammen drei aus den Niederlanden. Im Medaillenspiegel gehört der Nachbar Deutschlands gemessen an der Einwohnerzahl zu den stärksten Nationen. Das bringt ihnen Respekt und neue Sponsoren, doch vom Behindertensport kann nur Esther Vergeer leben. 2500 Euro erhält sie für einen Grand-Slam-Titel. 21 hat sie gewonnen. Sie folgt den olympischen Marketingbedürfnissen. Für ein US-Magazin hat sie sich nackt fotografieren lassen. Sie hat Sponsoren und hält Vorträge für Banken und Unternehmensberatungen.
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Vergeer spürt, dass das Publikum sie bewundert. Aber auch Zeuge sein will, wenn aus der Unbesiegbaren eine Besiegte wird. Während des Finales war der Applaus am lautesten, wenn ihre Gegnerin einen Punkt gewann. Vergeer wünscht sich starke Gegnerinnen. Und für ihre Stärke arbeitet sie hart. Nach jedem Training schult sie den Oberkörper. Ihr Trainer ist Sven Groeneveld, der schon Nicolas Kiefer und Monica Seles betreut hatte. Es ist ein seltsamer Druck, der auf Esther Vergeer lastet. Sie will gewinnen, aber nicht unerreichbar erscheinen. Ob sie 500 Siege erreicht? 1000? „Ich schaue nicht auf Marken. Ich möchte mich entwickeln.“
Es war nicht ihre Absicht, aber es klang wie eine Drohung.