London. Andreas Tölzer hatte schon als kleiner Junge den Traum vom Olympiasieg. In London jubelt Judoka aber auch über Bronze. Gold holt sich der Franzose Teddy Riner, dem jetzt eine Karriere in einer anderen Sportart vorschwebt.
Nach dem Halbfinale muss Andreas Tölzer in einem dunklen Gang unter den Stahlrohrtribünen hindurch gehen. Oben toben die Fans, unten starrt Tölzer ins Nichts. Er erkennt niemanden. 145 Kilogramm Zweifel, der Judo-Koloss hat sein Halbfinale verloren. Er hat dabei dumm gekämpft, sein Lebenstraum schmilzt dahin. Doch nur eine halbe Stunde später jubelt er: Bronze bei Olympia in der Klasse über 100 Kilo. Die Klasse der Judo-Könige.
Tölzers Geschichte ist die Geschichte einer zauberhaften Wandlung.
Vor einem halben Jahr, im Schneetreiben des Januars, saß er in der Kantine des Kölner Judo-Zentrums. Er rührte im Kaffee und erzählte von seinem Traum, den er als kleiner Junge schon hatte: Er wollte Olympiasieger werden.
Mehr Grizzly als Teddy
„Alle kann ich packen“, sagte er. Alle, damit meinte er die ganze Weltelite. „Nur bei einem wird es verdammt schwierig. Bei Teddy Riner.“ Der Franzose ist ein Bär von Mann, allerdings mehr Grizzly als Teddy. Er ist erst 23, hat schon fünf Weltmeister-Titel, und ist in Frankreich ein millionenschwerer Star. Die Sport-Zeitung L’Equipe aus Paris druckte zum Olympia-Auftakt einen lebensgroßen Starschnitt von Riner: 2,03 Meter hoch.
Als die Setzliste für das Olympia-Turnier heraus kam, atmete Tölzer durch. Weltmeister Riner war in der oberen Hälfte des Tableaus, Vize-Weltmeister Tölzer in der unteren Hälfte. Ein Aufeinandertreffen war also erst im Finale möglich.
Dann ist in London endlich der Tag des Judo-Könige da. Tölzers Eltern fliegen am Morgen von Köln nach London-Stansted. Sie sprechen kein Englisch und schlagen sich mit dem Vorortzug und einem Taxi bis zur Halle durch. Es ist eine Messehalle, die mit dem japanischen Zauber des Judos nichts zu tun hat. Lady Gaga dröhnt aus den Boxen, nackte Heizungsrohre, 6000 Zuschauer, ausverkauft.
Die meisten Franzosen haben keine Karten mehr bekommen. Sie müssen ihren Mister Olympia auf den Großbildschirmen des „Club France“ an der Themse anschauen. Drei Stunden vor dem Finale verrammeln die Ordner die Türen. Der „Club France“ platzt aus allen Nähten, auf der Lower Thames Road vor dem Club bricht ein Verkehrschaos aus, als die französischen Fans enttäuscht abziehen.
Wie das heiße Messer durch die Butter
In der Halle sind Tölzer und Riner derweil schon wie das heiße Messer durch die Butter bis ins Halbfinale vorgestoßen.
Riner muss als erster von beiden zum Halbfinale auf die Matte. Er führt rasch gegen den Südkoreaner Sung-Min Kim. Die fünf Minuten Kampfzeit ticken herunter. Riner weiß, wie er über die Zeit kommt, er spart Kraft. Neben der Matte wartet Tölzer bereits. Er sieht kantiger aus als noch in der Kantine in Köln. Ein Judoka aus Fleisch und Mut.
Riner siegt, er steht im Finale. Tölzer muss nachlegen. Er betritt die Matte, er schlägt sich mit den Handflächen gegen die Wange: Aufwachen! Der Kampf gegen den Russen Alexander Michailin beginnt. Tölzer wiegt 15 Kilo mehr als der Russe, ein Berg von einem Mann. Doch mit einem Mal ist es nur noch ein Zauderberg. Tölzer und der Russe belauern sich und machen wenig. Fünf Minuten sind um, keine Wertung. Drei Minuten Verlängerung, die nächste Wertung entscheidet.
Mattenrichter verwarnt den Deutschen
Der südkoreanische Mattenrichter verwarnt Tölzer wegen Passivität. Es ist die zweite Verwarnung, eine kleine Wertung für den Russen, der Kampf ist aus. Tölzer hat verloren. Er verschwindet in dem Gang unter den Tribünen, auf dem Gesicht dieser erschreckende Blick ins Nichts.
Riner steht nur ein paar Meter entfernt. Er hat die Faust geballt, sein Angstgegner ist aus dem Weg geräumt.
Trainer brüllt Tölzer zusammen
In der Aufwärmhalle baut sich Bundestrainer Detlef Ultsch vor Tölzer auf. Der kleine Ultsch brüllt den „Bullen von Mönchengladbach“ zusammen. „Er hat schlecht gekämpft, das musste eben einfach mal sein“, so der Trainer später. Die Methode Brüllaffe hilft. „Nach fünf Minuten war ich wieder da“, sagt Tölzer.
Er kehrt zum Bronze-Kampf zurück auf die Matte, nach drei Minuten liegt der Weißrusse Igor Makarau platt wie ein flach geklopftes Kotelett auf dem Boden. Tölzer hat ihn mit seiner Spezialität, dem Tölzer Umdreher“ aufs Kreuz gelegt. 20 Sekunden später ist Schluss: Bronze für den 32-Jährigen!
Riner liebäugelt mit Wechsel zum Rugby
„Die Medaille ist wie ein Sieg für mich“, strahlt Tölzer. Außerdem hat er jetzt noch ein Ziel: „Ich war noch nie Weltmeister.“ Während er das sagt, wird Teddy Riner im Glanz der Scheinwerfer problemlos Olympiasieger. Er will noch mehr Glanz und überlegt, ob er nun zum Profi-Rugby wechseln soll. Dort sind für ihn noch mehr Millionen zu verdienen.
Tölzer hat auch eine Belohnung bekommen: Der Kurort Bad Tölz hat ihn für die Bronze-Medaille für eine Woche zum Urlaub eingeladen. Tölzer strahlt, er ist glücklich. Mehr geht nicht.