London. . Kein Mensch fällt zweimal aus demselben Fenster. Miriam Welte und Kristina Vogel schon. Die beiden Bahnrad-Sprinterinnen unterliegen erst im Halbfinal-, dann im Finallauf. Und doch: Am Ende sind sie Olympiasiegerinnen.
Die deutschen Bahnrad-Sprinterinnen haben das Olympia-Finale um Gold am frühen Abend verpasst. Sie bereiten sich bereits auf das Bronze-Rennen vor, doch in diesem Moment disqualifiziert die Jury Großbritannien, das deutsche Team rückt damit ins Finale nach.
Also fahren Welte und Vogel eine Stunde später das Rennen um Gold gegen China, verlieren und freuen sich bereits über Silber. Doch der Bahnsinn geht weiter: Denn in diesem Augenblick wird auch noch China disqualifiziert, Miriam Welte und Kristina Vogel waren eigentlich zweimal erledigt, und sind auf einmal die Olympiasiegerinnen von London im Team-Sprint.
„Soviel Glück kann ein Mensch an einem Abend gar nicht haben“, sagt Kristina Vogel. Dann macht die 21-Jährige aus Erfurt eine Pause. „Aber Sie sehen ja: Doch, es geht!“
Alles ging im Lärm des Velodroms unter
Dabei haben beide zunächst von ihrem Sieg gar nichts mitgekriegt. Alles geht im Lärm des Velodroms unter. 6000 Zuschauer veranstalten einen Krach, als würde ein Jumbo Jet abheben. Die Briten sind verrückt nach den Radrennen auf der Holzbahn. Die Karten für das Velodrom waren die ersten Olympia-Karten, die schon vor einem Jahr ausverkauft waren.
Und gleich, nach den Frauen-Rennen, fährt der britische Volksheld Sir Chris Hoy um Gold im Mannschafts-Sprint. Die Stimme des Stadionsprechers versinkt im Lärm.
Welte und Vogel haben ihre Räder nach dem Finale bereits neben der Box abgestellt, in der sie sich auf den fest montierten Fahrrädern für die Rennen aufwärmen. Beide stehen vor den Mikrofonen der BBC, als sie auf der Tafel sehen: „Gold: Germany!“
Welte ist mit 25 Jahren nicht nur ältere, sie ist auch die coolere der beiden deutschen Sprinterinnen. Sie haut Vogel auf die Schulter. „Hey, wir haben Gold.“ Vogel sagt: „Du bist doof, wir haben Silber!“ Dann realisieren die beiden Mädchen das Unfassbare, das ihnen an diesem Abend von London widerfahren ist.
Eine Medaille war fest eingeplant
Dabei haben beide schon viel erlebt. Beide sind seit dem Frühjahr Weltmeisterinnen, bis zum Beginn des Olympia-Rennens halten sie auch den Weltrekord. Sie wohnen in London wie immer bei Wettkämpfen in einem gemeinsamen Doppelzimmer, und sie waren sich sicher, dass sie eine Medaille gewinnen. Schon vor vier Tagen haben sie sich ihre Fingernägel für die Feier in den Farben Schwarz-Rot-Gold lackiert.
Doch dann läuft es auf der Bahn nicht nach Plan. Erst pulverisieren die Britinnen schon in der Vorrunde den Weltrekord der Deutschen und drücken die Marke von 32,549 auf 32,526 Sekunden. Schon im nächsten Rennen legt China nach: Neuer Weltrekord mit 32,447 Sekunden.
Vogel und Welte verschwinden in ihrer Aufwärm-Box und finden sich mit dem kleinen Finale ab. Bis ihr Trainer kommt und sagt: „Die Britinnen sind raus, es geht um Gold.“ Miriam Welte schüttelt den Kopf: „So wollten wir nicht ins Finale, aber es gibt eben die Regeln.“
Vor dem Finale wird Vogel nervös. Sie kennt das Problem und arbeitet schon lange mit einer Mentaltrainerin daran. „Du bist wie ein Häschen, das vor der Möhre sitzt und sich nicht traut, rein zu beißen“, hat die Mentaltrainerin ihr gesagt. „Beiß jetzt endlich da rein!“
Die Chinesinnen sind zu stark
Welte ist anders. Sie trägt das Selbstbewusstsein der Sprinter wie ein Unterhemd auf der Haut. Vor dem Rennen nimmt sie ihren Kopfhörer und hört laute Musik. „Das reicht mir, danach bin ich da“, sagt sie.
Vogel und Welte sind im Finale beide voll da, doch die Chinesinnen sind zu stark. Die Uhren zeigen 32,619 Sekunden für China, 32,798 Sekunden für Deutschland. Das war’s. „Wenn das Rennen aus ist, ist es aus“, findet Vogel. In diesem Fall nicht. Ein paar Minuten später die ersten Video-Bilder: Eine Chinesin fährt über die schmale Linie der Wechselmarke. Nur ein paar Zentimeter, aber es ist deutlich zu sehen. Die Jury entscheidet: Disqualifikation.
Welte sagt: „Die Marke siehst du kaum. Wir rasen da mit 65 Kilometern drauf zu, das kann passieren.“ Nur: Es ist nicht den Deutschen passiert, sondern den Mädchen aus China.
„Es ist verrückt“, sagt Vogel noch. „Einfach verrückt.“ Wieder macht sie eine Pause: „Aber auch sehr schön!“