London. Die 16-jährige Chinesin Ye Shiwen hat bei Olympia für eine Sensation gesorgt: Sie blieb über 400 Meter Lagen nicht nur eine Sekunde unter dem bisherigen Weltrekord, die letzten 50 Meter schwamm sie sogar schneller als Ryan Lochte, der Sieger bei den Männern.
Als Ryan Lochte am Sonntagmorgen nach seinem Vorlauf über 200 Meter in den Katakomben des Aquatics Centre durch die Mixed Zone ging, wurde der US-Amerikaner nicht nur über seine eigene Vorstellung gefragt. „Was sagen Sie zu der Leistung der Chinesin Ye Shiwen“, wollten die Reporter wissen. Der Charming Boy des Schwimmsports, der für jeden ein Lächeln hat, besonders für seine unzähligen weiblichen Fans, aber auch für jeden Zuschauer des anderen Geschlechts, ist auch bei den Reportern wegen seiner offenen Art beliebt. „Wir haben uns beim Abendessen darüber unterhalten. Es ist sehr beeindruckend“, sagte Ryan Lochte, der am Samstag nicht nur das mit Spannung erwartete Duell über 400 Meter Lagen gegen den enttäuschten Vierten Michael Phelps gewonnen hatte, sondern auch sein erstes Gold eingefahren hatte.
Bei der Anschlussfrage gingen Lochtes Mundwinkel noch weiter in Richtung der Ohren: „Was sagen Sie denn dazu, dass eine 16-jährige Chinesin auf den letzten 50 Metern schneller geschwommen ist Sie?“ Die offizielle Zeitmessung hatte nämlich ausgewiesen, dass Ye Shiwen mit 28,93 Sekunden tatsächlich eine bessere Zeit erzielt hatte als der derzeit beste Schwimmer der Welt. „Vielleicht hätte sie mich ja sogar besiegt, wenn wir in einem Rennen gewesen wären“, sagte Lochte.
Sogar schneller als Lochte
Unglaublich! Incredible! Incroyable! Ob auf Deutsch, Englisch oder Französisch, es ist eines der meist gebrauchten Wörter im Sport. Man hört es von Sportlern nach deren überraschenden Siegen oder auch Niederlagen. Für die Vorstellung von Ye Shiwen darf die etwas abgegriffene Beschreibung mal wörtlich genommen werden. Es ist nicht zu glauben, dass eine 16-Jährige mit 4:28,43 Minuten um über eine Sekunde unter dem Weltrekord geblieben ist, den die Australierin Stephanie Rice im Gegensatz zur Chinesin in einem High-Tech-Anzug aufgestellt hatte. Und es ist noch viel weniger vorstellbar, dass die Chinesin auf der Schlussbahn sogar schneller war als Ryan Lochte. So sieht es auch Doping-Experte Fritz Sörgel: „Dieser Endspurt war schon unglaublich.“
Dagegen hält sich Werner Franke, der gerade chinesischen Sportlern gegenüber kritisch eingestellt ist, zurück. „Shiwens Leistungen sind ungewöhnlich, auffällig und überprüfungswürdig, aber physiologisch nicht unmöglich“, sagt der Molekularbiologe, „gerade junge, früh trainierte Sportler sind mitunter zu erstaunlichen Leistungen fähig, weil sie von ihren spezifischen Gewichtsverhältnissen profitieren.“
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Zweifel am Resultat bleiben
Ob die neue Weltrekordlerin ein Jahrhunderttalent ist oder ob mit verbotenen Mitteln nachgeholfen wurde, ist mit Sicherheit nicht zu klären. Aber die Chinesin muss mit Zweifeln an ihren Resultaten leben, zumal erst im März 2012 eine Teamkollegin, Staffel-Weltmeisterin Li Zhesi, des Epo-Dopings überführt worden war. Ye Shiwen soll schon im Kindergarten für das Schwimmen gesichtet worden sein, weil sie auffallend große Hände gehabt habe. Große Hände helfen enorm beim Schwimmen, um das Wasser großflächig zu verdrängen. Bei auffällig großen Händen denkt man aber auch direkt an Wachstumshormone, deren Anwendung im Schwimmsport nicht nur in China vermutet wird.
In der Pressekonferenz hielt sich Ye Shiwen, die schon 2011 bei der WM in Shanghai Gold über 200 Meter Lagen gewonnen hatte, schüchtern zurück. Ihre Ankündigungen zeugen aber von großem Selbstbewusstsein. „Ich wollte Gold gewinnen“, sagte sie, „aber mit dem Weltrekord habe ich nie gerechnet.“ Natürlich wurde auch Ye Shinwen gefragt, wie sie es mache, dass sie auf einer Bahn schneller als Lochte gewesen sei. „Ich habe hart trainiert“, antwortete sie, „wir sind keine Schwimm-Roboter. Wir arbeiten mit wissenschaftlichen Methoden. Ich werde künftig noch schneller sein.“ Sollen wir uns darüber freuen? Im Sport geht es immer mehr um die Glaubensfrage. Nicht nur im Schwimmen. Und nicht nur, wenn es um Chinesen geht.