Mülheim. Ein bewegendes Leben: Paul-Gerhard Bethge ist 100 Jahre alt geworden. Mülheims Ex-Bürgermeister war unter anderem beim Finale der Fußball-WM 1954 im Stadion.

  • Der Mülheimer Paul-Gerhard Bethge ist vor kurzem 100 Jahre alt geworden.
  • In der Stadt kennt man ihn nicht nur als Ex-Bürgermeister. In der Sportszene von Mülheim hat er sich als langjähriges Mitglied beim MTV Kahlenberg, Funktionär und Tennisspieler einen Namen gemacht.
  • Auch sonst hat er viele Geschichten aus 100 Jahren Leben auf Lager. Er war beim „Wunder von Bern“ 1954 im Stadion, und als Schalke-Fan dort wegen einer Sache enttäuscht.

Paul Gerd Bethge schaut nach oben, schließt die blauen Augen einmal, zieht dann die Mundwinkel hoch und öffnet die Lider wieder: „Ja“, leitet er ein. „Wir hatten mal einen Spieler, Winnesberg, Rolf Winnesberg. Der spielte einst gegen den Dr. Stauder, den Inhaber der Brauerei. Der war auch Präsident des Deutschen Tennisbundes, ein richtig hohes Tier. Und an einem Sonntag kam er hier zum MTV Kahlenberg“, erinnert sich Bethge.

Claus Stauder habe mit dem ETuF Essen gegen Rolf Winnesberg spielen müssen, eigentlich ein ganz normales Tennisspiel in Mülheim. Doch für den jüngst im Juni 2024 verstorbenen Ex-Präsidenten stand direkt nach der Partie eine Reise nach Paris an, zum Finale der French Open.

„Da musste er natürlich anwesend sein. Aber vorher spielte er hier gegen den Winnesberg und verlor. Auf das gemeinsame Essen hat er verzichtet und ist mit einer richtigen Fluppe abgezogen. Als der Winnesberg jetzt zu meinem Geburtstag kam, habe ich ihn begrüßt mit den Worten: Winnes, du Stauder-Bezwinger“, so Bethge schmunzelnd.

Paul-Gerhardt Bethge war früher Bürgermeister der Stadt Mülheim – und noch davor ein guter Fußballer

Der Geburtstag, von dem der ehemalige Mülheimer Bürgermeister (FDP), Ex-Präsident und Ehrenmitglied des MTV Kahlenberg spricht, war ein runder: Sein 100. Am 28. November feierte Bethge ihn gemeinsam mit alten Weggefährten des Klubs und der Familie. „Ich bin dem Verein immer treu geblieben. Im März möchte ich mich auf der Jahreshauptversammlung dann auch offiziell verabschieden.“

Das Leben von Paul-Gerhard Bethge

Paul-Gerhard Bethge wurde am 28. November 1924 in Mülheim geboren und wuchs in der Altstadt auf. Sein Vater war ein ehemaliger Berufssoldat und Anhänger von Kaiser Wilhelm, seine Mutter Anhängerin der NSDAP und Adolf Hitlers. Bethge wurde Mitglied der Hitler-Jugend und meldete sich im Alter von 16 Jahren freiwillig als Soldat. Später ging er zur Waffen-SS und war Teil der Division Wiking, mit der er in der Ukraine und im Kaukasus kämpfte. Das Ende des 2. Weltkrieges erlebte er in US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Damals habe er die ersten Bilder der Konzentrationslager gesehen, sagt Bethge. Erst konnte er dies nicht glauben. Die Erkenntnis, der falschen Sache gedient zu haben, kam erst zu Zeiten der Nürnberger Prozesse.

1950 trat Bethge der FDP bei, nachdem der FDP-Bundestagsabgeordnete Erich Mende sich gegen die pauschale Verurteilung der SS-Soldaten wandte. Später wurde er Fraktionsvorsitzender der Partei in Mülheim, wo er seit 1950 im Finanzamt arbeitete. Von 1964 bis 1984 war er Ratsmitglied und kümmerte sich um Finanzen, Stadtentwicklung, Gesundheit und Sport. 1979 bis 1984 war er Bürgermeister Mülheims. 1979 bekam er den Ehrenring der Stadt verliehen.

1960 trat der Mülheimer in den MTV Kahlenberg ein, mit 35 Jahren. Dabei war Bethge in seiner Jugendzeit eigentlich passionierter Fußballspieler. „Ich spielte als Schüler beim TuS Union Mülheim und später als rechter Läufer in der Stadtauswahl. Damals hatten wir nur Spieler vom VfB Speldorf und vom FC Styrum. Und mich. Ich war ein besserer Fußballer als späterer Tennisspieler“, erinnert sich der 100-Jährige. Noch heute schaut er sich Fußball – sowohl der Männer als auch der Frauen – gerne im Fernsehen an.

Das Wunder von Bern erlebte Paul-Gerhard Bethge live im Stadion mit

Ein Erlebnis konnte und kann aber nie getoppt werden: Bethge war live im Stadion dabei als Deutschland das Wunder von Bern feierte, 1954 zum ersten Mal Weltmeister wurde. „Da haben wir alle geweint, ich glaube, da blieben bei keinem Deutschen die Augen trocken. Das Tor von Helmut Rahn – Wahnsinn. In die linke untere Ecke. Dabei war ich eigentlich gar nicht begeistert von der Aufstellung“, verrät Bethge. Denn der Mülheimer ist Schalke-Fan, auch wenn er heute lieber den FC Bayern München Fußball spielen sieht. „Und der Rahn spielte auf der gleichen Position wie der Schalker Bernhard Klodt. Aber scheinbar hatte der Sepp Herberger mehr Ahnung als ich“, so Bethge lachend.

Paul-Gerhard Bethge (r.), Ex-Bürgermeister der Stadt Mülheim, hier mit Fritz Buchloh, der früher beim VfB Speldorf Fußball spielte und 1932 bis 1936 in der deutschen Nationalmannschaft 17 Länderspiele absolvierte.
Paul-Gerhard Bethge (r.), Ex-Bürgermeister der Stadt Mülheim, hier mit Fritz Buchloh, der früher beim VfB Speldorf Fußball spielte und 1932 bis 1936 in der deutschen Nationalmannschaft 17 Länderspiele absolvierte. © Bethge | Bethge

Zu dieser Zeit war der Mülheimer auch Stammgast als Zuschauer beim HTC Uhlenhorst, selbst aktiv wurde er dann aber erst wieder so richtig beim MTV Kahlenberg. „Ich war dem Klub schon vorher über Freunde verbunden. Ich bin leidenschaftlicher Kahlenberger. Kahlenberg ist ein Weltanschauung“, sagt er heute. Jahrzehntelang spielte er Doppel- und Mixed und engagierte er sich für den Klub, von 1994 bis 1998 war er dann 1. Vorsitzender, danach zwölf Jahre lang Vorsitzender des Ältestenrats. Unter anderem startete der Verein eine Kooperation mit dem Max-Planck-Institut in Mülheim. Die Folge: Eine Mannschaft, die nur aus Professoren und Doktoranten bestand.

„Es bestand damals eine Symbiose aus Sport und Gesellschaft. Ich war in Mülheim Bürgermeister, Fraktionsvorsitzender der FDP, im Kuratorium des evangelischen Krankenhauses, beim Wasserwerk. Wo war ich nicht? Die Freunde aus all diesen Bereichen habe ich mit zum MTV genommen. Und natürlich haben wir auch gefeiert. Das gehört dazu. Aber kultiviert – bis zum 8. Glas.“

Alle in weiß: Diesen Plan durchkreuzte die Enkelin

An einem Plan scheiterte Bethge aber – „und das ausgerechnet wegen meiner Enkelin“, sagt Bethge und lacht. „Ich wollte, dass alle in weiß spielen. Tennis ist der weiße Sport. Auf jedem Schreiben, welches ich herausgeschickt habe, stand: Nur in weiß ist Tennis Tennis.“

100 Jahre alt ist Paul-Gerhard Bethge geworden. Der ehemalige Bürgermeister der Stadt Mülheim war lange Zeit Mitglied des MTV Kahlenberg und als Jugendlicher auch ein guter Fußballer.
Paul-Gerhard Bethge heute. Jüngst feierte der ehemalige Bürgemeister der Stadt Mülheim (FDP) seinen 100. Geburtstag. © WAZ FotoPool | FINKE, Christina

Doch dann kam die große Zeit von John McEnroe und Jimmy Connors. „Die hatten die Haare nach hinten und trugen Cappies oder bunte T-Shirts. Sagen Sie dann mal Jugendlichen, dass die das nicht dürfen. Bei einem Pfingstturnier hatten wir hier 32 Spieler. 31 davon spielten in weiß. Nur meine Enkeltochter nicht. Sie meinte, sie wäre die Stimme des Protests der Jugend“, erinnert sich Bethge schmunzelnd.

Noch heute meckere er manchmal leise vor sich hin, wenn er bunte Klamotten beim Tennis sehe, doch mittlerweile kann er damit leben. Zumal Bethge weiß, dass es auf ganz andere Dinge ankommt. Jedes Jahr muss er sich mittlerweile eine Nieren-Operation unterziehen. Beim Laufen stützt ein Stock seinen linken Arm. Gleich zwei Mal versagte sein Herz, beim zweiten Mal mitten auf dem Tennisplatz. „Erst drei Bypässe, zwölf Jahre später dann nochmal zwei Bypässe. Einmal bin ich umgekippt, beim anderen Mal wurde mir schlecht und ich wurde von Mitspielern sofort ins Krankenhaus gebracht.“

Paul-Gerhard Bethge spielte auch Tischtennis in Mülheim.
Paul-Gerhard Bethge spielte auch Tischtennis in Mülheim. © Radtke | Radtke

Seine Frau, mit der er 73 Jahre lang verheiratet war und die mittlerweile leider seit sechs Jahren verstorben ist, habe damals gesagt, nun sei Schluss mit dem Spielen. „Danach hatte ich keine aktive Funktion mehr im Verein. Aber drei, vier Jahre später habe ich dann doch wieder Tennis gespielt, im Doppel. Ohne Sport ging es nie.“

Mit 79 Jahren stand Paul-Gerhard Bethge zum Letzten Mal auf dem Tennisplatz beim MTV Kahlenberg

Mittlerweile ist dies schon einige Zeit her. Mit 79 Jahren stand Bethge das letzte Mal aktiv auf dem Court. Viele seiner Wegbegleiter hat er mittlerweile gehen gesehen. „In meinen letzten zehn Jahren als Tennisspieler habe ich mit acht verschiedenen Freunden Doppel gespielt. Die sind mittlerweile alle tot. Ich selbst bemühe mich jeden Tag eine Stunde laufen zu gehen. Dann gehe ich auf den Friedhof, besuche das Grab meiner Frau. Da liegen auch viele Freunde von mir, bestimmt 15 aus dem Tennisklub“, sagt Bethge – aber ohne großes Bedauern in der Stimme. Denn so ist nun einmal der Lauf des Lebens.

Und der 100-Jährige ist mit sich im Reinen. Er sagt: „Mit 100 Jahren ist der Großteil des Lebens vorbei – wahrscheinlich.“

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