Essen/Region. Ein Blick nach Essen: Tusem jubelt, RW hadert. Sportrichter Longrée erklärt, warum die Corona-Krise für Vereine und Gerichte so kompliziert ist.
Fair ist das nicht. Dieses Coronavirus ist in die laufende Saison gegrätscht und hat den Sportbetrieb stillgelegt. Das gab‘s noch nie. Und weil niemand weiß, wann und wie sich die Räder wiederdrehen werden, haben die Verbände der meisten Sportarten notgedrungen die Saison vorzeitig beendet. Beim Fußball ist zumindest der Fußball- und Leichtathletik-Verband Westfalen (FLVW) auf dem Weg dorthin. Für viele Sportvereine bedeutet der Saisonabbruch kaum mehr Planungssicherheit und die Folgen müssen auch noch verarbeitet werden.
Tusem Essen jubelt. Nach acht Jahren kehrt der Traditionsklub von der Margarethenhöhe in die 1. Handball-Bundesliga zurück. Das ist ein Erfolg, den man sich nach drei Viertel der Saison als Tabellenzweiter verdient hat. Oder doch nicht?
Corona: Für die Handballer war Tusems Aufstieg die „am wenigsten schlechte“ Lösung
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Die Verfolger aus Bietigheim und Gummersbach sind auf der Strecke geblieben und mögen es anders beurteilen, weil sie ja selbst noch eine sehr gute Chancen gehabt hätten, einen Aufstiegsrang zu erreichen.
Niels Ellwanger, Chef der Tusem-Handballer und Mitglied im Präsidium der Handball Bundesliga (HBL) kommt dem Problem ziemlich nah, wenn er die getroffene Auf- und Abstiegsregelung als „am wenigsten schlecht“ verteidigt und die Quotienten-Rechnung noch als „am fairsten“ bezeichnet.
Bislang jedenfalls ist von den Elite-Handballern im Land keine Kritik zu hören, keinen Klagen, mit der man den Beschluss anfechten möchte. Selbstverständlich ist das nicht.
Essener Anwalt und Sportrechtler Longrée: „Grundsätzlich kann jeder klagen“
„Grundsätzlich kann jeder klagen“, sagt der Essener Rechtsanwalt Sebastian Longrée (44), ehemals Top-Triathlet und noch heute im Ausdauer-Dreikampf auf internationalem Niveau unterwegs. Der juristische Weg steht immer und jedem offen, könnte verbandsintern beschritten werden, manche versuchen es auch vor dem Zivilgericht.
Als wählbare Alternative dazu gibt es seit 2008 das Deutsche Sportschiedsgericht in Köln, für das auch Longrée als Richter tätig ist. Es ist die höchste schiedsrechtliche Instanz auf nationaler Ebene und kann Entscheidungen der Verbandsgerichte überprüfen, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit juristisch die Autonomie des Sports absichern.
Das Problem liegt auf der Hand: Der Wortlaut eines jeden Vertrages oder Regelwerkes ist entscheidend, allerdings war vor der Krise nirgendwo in den Statuten der Ausnahmezustand einer Pandemie thematisiert, so dass es keine Handlungsvorgabe gibt.
Nicht einmal innerhalb der Verbände gibt es immer einheitliche Lösungen
Man erkennt es daran, dass in Sportarten das Problem zum Beispiel von Auf- und Abstieg keineswegs einheitlich gelöst worden ist. Mal ist der Tabellenstand des letzten Spieltages maßgebend, mal mit Wildcard für mögliche Aufsteiger, mal ohne. Die Hinrunden-Tabelle galt als Option oder es wurde nach Quotient (Punkte durch Zahl der Spiele dividiert) entschieden.
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Die Verbände sind und waren um eine breite Zustimmung der Vereine bemüht, aber eine optimale Reglung gibt es offenbar nicht. Und selbst innerhalb des relativ überschaubaren Westdeutschen Handballverbandes wird unterschiedlich verfahren: in Westfalen gibt es Wildcards, am Niederrhein nicht. Wo ist der Maßstab, wer soll da noch durchblicken?
„Wir haben auch ein Rechtsgutachten eingeholt“, sagt HBL-Präsidiumsmitglied Ellwanger. Die Quotientenregelung hat sich bei den Handballern durchgesetzt. Aber jedes Gutachten lässt die Option eines Gegengutachtens. Und der Volksmund sagt sinngemäß zurecht, vor Gericht und hoher See weiß niemand, wie es endet. „Die Corona-Krise wird die Gerichte noch über Jahre beschäftigen“, befürchtet Longrée.
Auch um die Olympia-Nominierungen könnte es Streit geben
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„Streit wird auch noch mit Blick auf die Olympia-Nominierungen auf uns zukommen“, prognostiziert der Anwalt. „Die einen werden sagen: „Ich habe die Kriterien bereits erfüllt.“ Andere werden entgegnen: „Kann ja sein für Olympia 2020, aber nicht für Olympia 2021.“ Und beliebig viele Athleten kann der DOSB nicht nominieren. Die Juristen jedenfalls haben zu tun.
„Ich bin jetzt über 15 Jahre Anwalt, aber noch nie sind so viele Gesetze und Normen so schnell erlassen bzw. gravierend abgeändert oder ergänzt worden wie in dieser Zeit“, sagt Longrée. Auch die Vereine reagieren: Moskitos-Chef Thomas Böttcher beispielsweise hat in den neuen Spielerverträgen für die kommende Eishockey-Saison das Problem „Pandemie“ mit aufnehmen lassen.
Marcus Uhlig, Vorsitzender beim Fußball-Regionalligisten Rot-Weiss Essen, hat schon verkündet, dass er sich juristische Schritte vorbehält.
Rot-Weiss Essen will sich im Aufstiegskampf nicht einfach ergeben
Bei einer Umfrage unter den Klubs der Regionalliga West stimmte er als einziger Vertreter gegen einen Saisonabbruch.
Vieles deutet nun darauf hin, dass der Tabellenzweite SC Verl in die Aufstiegsrelegation geschickt wird, Primus Rödinghausen hatte bekanntlich schon vorher verzichtet. RWE will sich im Aufstiegskampf nicht einfach so ergeben und mögliche Regressansprüche abwenden, denn die sind möglich, weil das Prinzip von Leistung und Gegenleistung mit dem Abbruch nicht mehr gewahrt ist.
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„Wenn man eine Veranstaltung nicht durchführen kann“, sagt Longrée, „müssen Eintrittsgeld oder Startgebühren grundsätzlich zurückgezahlt werden. Es sei denn, die von dem „Corona-Kabinett“ erdachte Gutscheinlösung kommt.“
Und natürlich könnten Dauerkartenbesitzer sowie Sponsoren eine Rückerstattung für nicht erbrachte Leistungen, wie zum Beispiel die nicht ausgetragene Spiele, einfordern. Rein theoretisch.
Die Emotionen könnten für die Vereine zum Trumpf werden
„Aber welcher Fan macht das schon und zieht das durch, sofern er nicht selbst finanzielle Probleme bekommen hat?“, verweist Longrée auf die emotionale Schiene. Man hänge doch an seinem Verein und wolle ihm nicht schaden. Ähnlich sieht es der Jurist auch bei den Sponsoren, die oft eine langfristige Bindung anstreben.
„Deshalb heißt es ja auch Partnerschaft. Wie stark diese ist, zeigt sich – eigentlich wie immer im Leben – erst in schlechten Zeiten.“ Es gebe ja noch andere Möglichkeiten, den Gönnern eine Plattform zu bieten, auf der Vereinsseite oder in den Sozialen Medien. „Ganz wichtig ist es, wie man ungeachtet der Vertragsklauseln miteinander umgeht und kommuniziert.“
Niels Ellwanger hat direkt nach dem Abbruch den ersten Schritt gemacht und offiziell über die Optionen einer Rückerstattung informiert.
Viele Solidaritätsbekenntnisse für Tusem
„Wir freuen uns über zahlreiche Solidaritätsbekenntnisse, dass viele Tageskarten- und auch Dauerkarteninhaber auf eine Erstattung der bereits erworbenen Tickets verzichten würden. Dennoch ist uns bewusst, dass es in der aktuellen Situation auch viele gibt, die aktuell selbst schauen müssen, wie sie die Situation stemmen können.“
Solidarität ist gerade in dieser Krise unbezahlbar.