Essen. Mountainbiker steigt um auf die Straße und heuert beim World-Tour-Team Bora-hansgrohe an. 26-Jähriger verblüfft mit Leistungsdaten die Fachwelt.
Es gibt diese Zäsuren im Leben: Irgendwann entschließt man sich, etwas ganz Neues zu machen. Das erfordert Mut, keine Frage. Selbstbewusstsein und Optimismus gehören ebenfalls dazu. All das besitzt Ben Zwiehoff - und er wird es brauchen bei seinem Neustart. Aufgrund der Corona-Pandemie war die Saison für den Mountainbiker vom MSV Steele natürlich sehr überschaubar. Doch gut möglich, dass 2020 im Rückblick ein überaus wertvolles Jahr für ihn gewesen ist, weil der 26-Jährige die Weichen für seine sportliche Laufbahn neu gestellt hat.
Ben Zwiehoff verlässt nach mehr als 20 durchaus erfolgreichen Jahren gewohntes Terrain und geht auf die Straße, um zu demonstrieren, dass er noch viel mehr drauf hat, als er bisher im Gelände zeigen konnte. Im Cross-Country war der Essener mit dem deutschen Team immerhin 2015 Europameister, 2019 war er im Einzelfahren deutscher Vizemeister. Doch künftig ist vor allem Teamwork angesagt.
Keine Wehmut beim Blick zurück
Zwiehoff streift sich das Trikot von „Bora-hansgrohe“ über, dem Rennstall aus Oberbayern, der am ganz großen Rad dreht - beim Giro d’Italia, bei der Tour de France oder der spanischen Vuelta.
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„Ich bin happy, dass es geklappt hat“, strahlt Zwiehoff, den offenbar keine Wehmut befällt. Der Wechsel bietet dem Rad-Profi ganz neue Perspektiven, sportlich, aber auch finanziell. „Das ist noch einmal eine ganz andere Dimension“, sagt der junge Mann, der dankbar ist, dass ihm die Chance geboten wird, zu einem World-Tour-Team zu gehören, in dem er Kollegen haben wird wie den dreimaligen Straßen-Weltmeister Peter Sagan.
„Ich glaube, das gab’s in Deutschland noch nie, dass ein Mountainbiker auf die Straße gewechselt ist“, schmunzelt Ben Zwiehoff. Und absolut ungewöhnlich ist auch die Story drumherum, wie es zu diesem Wechsel gekommen ist.
Werte wie ein Weltklassefahrer
Schon vor drei Jahren, er war gerade im Wintertrainingslager auf Mallorca, fragte sich der Radprofi, ob er vielleicht einmal sein Glück auf der Straße versuchen sollte? Freunde mit guten Beziehungen zur Szene knüpften für ihn die ersten Kontakte. Im Herbst 2019 bekamen die Verantwortlichen bei Bora erstmals die Daten des Mountainbikers zu Gesicht und waren, sagen wir es mal so, ziemlich beeindruckt. Sie luden ihn zu einem gemeinsamen Trainingslager auf Mallorca ein, bei dem der Gast aus dem Ruhrgebiet einen richtig guten Eindruck machte. Damit stand die Tür offen.
Damals war der Plan, dass Zwiehoff noch auf dicken Profilreifen bei den Olympischen Spielen in Tokio starten sollte, um anschließend als Azubi bei Bora anzuheuern. Doch aufgrund der Corona-Pandemie und fehlender Renntermine wurden die Ausbildungsplätze gestrichen. Schließlich wurde dann auch noch Olympia ins nächste Jahr verlegt. Was tun? Erneut alle Pläne verwerfen? Nein, Ben Zwiehoff war entschlossen, wollte nicht unnötig Zeit vergeuden und verfolgte zielstrebig die Idee von der Straßenkarriere. Und machte sich schließlich einen Namen.
Bei Rad-Bundesliga Konkurrenz distanziert
Bei der virtuellen Rad-Bundesliga im Mai, einer coronabedingten Renn-Alternative, distanzierte er die Konkurrenz bei einer äußerst anspruchsvollen Berg-Etappe und kam auf Rang zwei. Unmittelbar danach wurde er von einem niederländischen Rennstall zu einem Leistungstest nach Amsterdam eingeladen. Und der sollte historisch werden. Zwiehoff erzielte die besten Werte, die jemals in diesem Labor gemessen wurden. Werte, die selbst Weltklassefahrer nicht erreichen.
Das machte natürlich die Runde, und schon bald riefen mehrere Teams an. Zwiehoff entschied sich schließlich für Bora-hansgrohe, weil sie ihn dort von Anfang an auch ohne Vertrag unterstützt hatten und die Chemie stimmt. „Ben ist seit Jahren Teil der MTB-Nationalmannschaft und feierte immer wieder Erfolge, aber es fehlt ihm dort vielleicht ein wenig an Explosivität“, erklärte Bora-Teamchef Ralph Denk der „radsportnews“. „Auf der Straße, besonders in den Bergen, sehen wir enorme Möglichkeiten.“
Besonders in den Bergen enorme Möglichkeiten
Und der Sportchef Enrico Poitschke ergänzte: „Es ist spannend. Wir sind uns aber sicher, dass es funktionieren kann.“ Der Newcomer wiederum weiß: „Meine super Werte muss ich nun auch auf die Straße bringen. Allerdings muss ich dort noch viel lernen.“ Seine bisherige Erfahrung als Straßenfahrer: Eine dreitägige Rundfahrt in Polen, bei der er Gesamtrang 76 belegte.
Die Belastung wird eine andere sein und Zwiehoff entgegenkommen. Beim Cross Country geht es ständig auf und ab und nur Tempo, Tempo, Tempo. Auf der Straße sind die Strecken wesentlich länger, die Rennen dauern oft mehr als doppelt so lange. Aber Zwiehoffs Qualität ist ein andere: Behände meisterte das Leichtgewicht bisher die steilen Anstiege, und genau das wird auch der Job bei seinem neuen Arbeitgeber sein, das Team als Kletterspezialist im Hochgebirge zu unterstützen. „Dafür müssen mir die anderen helfen, auf der Straße zurechtzukommen.“
Ben Zwiehoff darf weiter träumen
Ende des Jahres wird ein Plan gemacht, welche Rennen Zwiehoff bestreiten soll. Das Jura-Studium wird weiterhin hintenanstehen. Die Olympischen Spiele 2021 sind wohl abgehakt. Obwohl...unter den fünf Ringen gibt’s ja auch Straßenrennen. Ben Zwiehoff vom MSV Steele darf also weiter träumen: „Als Kind habe ich in mein Freundschaftsbuch geschrieben: Ich will mal die Tour de France fahren. Das ist nach wie vor aktuell.“