Bochum. . Bei einem B-Jugend-Spiel zog sich Jordi K. einen doppelten Kieferbruch zu. Absicht, meint der 16-Jährige, keine Absicht, sagen die Gegner. Andere Fälle im Jugendfußball sind eindeutig: Die Zahl der Tätlichkeiten nimmt nicht zu. Die Brutalität schon.
Jordi K., 16, liegt im Bett des Krankenhauses. Draußen schneit es. Drinnen regnet es. Das Sprechen fällt ihm schwer. Sechs Wochen kann er nur Suppen essen, Flüssiges. Der Türkei-Urlaub? Kein Thema. Sport? Verboten, noch acht Wochen. Folgen eines doppelten Kieferbruchs, am Sonntag operiert.
Folgen eines Fußballspiels.
Jordi ist Innenverteidiger, schon stattliche 1,85m groß. Seit zehn Jahren kickt er, beim SV Bochum-Vöde, nun bei den B-Junioren, in der Kreisliga C. Freistoß Vöde, der Ball fliegt am oder im Sechzehner durch die Luft und, so viel ist sicher, Jordi K. liegt - abseits des Geschehens - am Boden. Blutüberströmt. Der Krankenwagen fährt vor und Jordi K. in die Klinik. Das Spiel geht weiter. Vöde verliert 0:2. Nach „hartem Kampf“, wie man so sagt.
Ellbogenschlag oder Faust?
Einen „Ellbogenschlag“ oder „eine Faust“, meint Jordi, habe er ins Gesicht bekommen, dabei sei er gar nicht hochgestiegen zum Kopfball, der Ball sei ja ganz woanders gewesen. Auch sein Trainer, auch einige Teamkollegen schildern die Szene so oder so ähnlich. Von einem Schlag mit der flachen Hand im Zweikampf, ergo: ohne Absicht, spricht der Schiedsrichter, der das „aus dem Augenwinkel“ gesehen haben will. Er zeigt dem Täter deshalb nur die Gelbe Karte. Auch der Gegenspieler „schwört“, so sein Trainer, Jordi K. nicht extra getroffen zu haben.
Jordi K. und seine Kollegen und sein Vater glauben das nicht. Jordi K. sagt: „Wenn das bei einer sportlichen Aktion passiert wäre, o.k., das kommt vor. Und wenn er sich entschuldigt hätte...“ Verbittert ist er, dass niemand kam vom Gegner; sich zu erkundigen, wie es ihm geht. Zu entschuldigen. „Das tut mir in der Seele weh“, sagt der Trainer des Gegners, übrigens ein unauffälliger Klub, als er von der WAZ die üblen Folgen erfährt. Sich nicht zu kümmern, sagt er nun, „war ein Fehler.“
„Die Schwere der Tätlichkeiten hat eindeutig zugenommen“
Es gibt andere Härtefälle im Jugendfußball, die eindeutig sind und rechtskräftig. Und verstören. Wie im Vorjahr, als ein B-Jugendlicher auf einen am Boden liegenden Spieler eintrat, über ihn sprang und nochmal zutrat. Sechs Monate wurde er für diesen brutalen Akt gesperrt. Es war eines von 43 Verfahren vor der Kreis-Jugend-Spruchkammer (KJS), in denen es um Tätlichkeiten gegen Spieler (40) oder Schiedsrichter (3) ging. 2011 waren es nur 13, dennoch sagt Helmut Langner, seit „Urzeiten“ der KJS-Vorsitzende: Die Zahl dieser Sünden sei über die Jahre gesehen etwa „stabil“. Aber: „Die Schwere der Tätlichkeiten hat eindeutig zugenommen.“
Von einer zunehmenden „Verrohung“ in der Gesellschaft und damit letztlich „auch im Fußball“ sprechen auch Ulrich Jeromin, Bochums Fußballkreis-Vorsitzender, und Theo Mennecke, der hiesige Schiedsrichter-Chef. Dabei sieht man sich in Bochum auf dem richtigen Weg: mit Prävention statt, wie etwa in Bottrop, noch höheren Strafen. Mit gezielten Gesprächen in den Klubs, mit Betroffenen; mit Aufklärung und Flyern, wie man sich verhalten soll, die auch Trainer, Betreuer, Zuschauer ansprechen. Mit Lehrgängen für Schiedsrichter und für Klubs. Vor allem mit Ralf Dux, dem ersten Deeskalationsbeauftragten des Fußballkreises, der zu den (Problem-)Vereinen, Spielern, Trainern geht, der offenbar ankommt mit seiner Art des Dialogs samt klarer Sprache. „Wir tun eine Menge, und wir haben den Eindruck, dass es langsam wirkt“, sagt Jeromin. „Aber alles verhindern können wir nicht, wenn Sonntag einer durchknallt.“
„So etwas habe ich noch nie erlebt, eine Ausnahme“
Jordi K. kommt wohl heute nach Hause, vielleicht, hofft er, kann er im letzten Saisonspiel wieder dabei sein. Grundsätzlich, sagt er wie so viele in seinem Alter auch, müsse man „keine Angst“ haben, Fußball zu spielen. Sein Trainer Dominik Paul sagt: „So etwas habe ich noch nie erlebt, eine Ausnahme.“
Dass Jordi K. nur Pech hatte, will sein Vater nicht stehen lassen: Er lässt von einem Anwalt rechtliche Schritte prüfen. Auch, betont er, „weil sich niemand gemeldet hat.“
FAKTEN: STRAFEN UND SPIELE
96 Fußball-Vereine gibt es im Fußballkreis Bochum, die meisten haben eine Jugendabteilung, wobei die Zahl der Teams in der B- und A-Jugend erheblich abnimmt. Tendenz: Die ältere Jugend kickt nicht mehr im Klub.
Aber: Allein in den Kreisligen von der D- bis zur A-Jugend finden jedes Spieltags-Wochenende über 100 Partien mit über 200 Mannschaften und etwa 2500 Spielern statt. Hinzu kommen hunderte Spiele bei den Kleinen und ein paar Partien mit Bochumer Beteiligung in den höheren Ligen (Bezirks - bis Bundesliga).
Für eine Tätlichkeit wird ein Jugendspieler, je nach Schwere und Verhalten vor der Jugendspruchkammer, bis zu einem Jahr gesperrt. Meistens: acht bis zwölf Wochen. In anderen Verbänden (hier: FLVW) ist die Höchstrafe härter: in Bremen gibt es gar eine lebenslängliche Sperre.
Schiedsrichter unterliegen einem besonderen Schutz. Tätlichkeiten gegen sie werden mit längeren Mindestperren bestraft. Wird ein Schiri im Gesicht angespuckt, gilt die Höchststrafe. Schuss in die Genitalien: Mindeststrafe sechs Monate.