Bochum. Heute boxt der Bochumer Agit Kabayel auf der großen Bühne in Riad gegen Zhilei Zhang. Er gibt Einblicke in seine harte Kindheit und spricht über seine Beziehung zu Geld.
„Komm, wir nehmen eine Abkürzung“, sagt der Boxer Agit Kabayel, als er die Dönerbude zeigen will, in der früher seine Eltern gearbeitet haben. Der 32-Jährige steht wenige Tage vor dem größten Kampf seiner Karriere, aber hier gibt er den Stadtführer. Durch die Vorstadtstraße, einmal quer über den Rewe-Parkplatz, rein in die Wattenscheider Innenstadt. Mitten im Ruhrgebiet fühlt Kabayel sich zu Hause. Er würde nie wegziehen, sagt der Mann, der davon träumt, der erste deutsche Box-Weltmeister im Schwergewicht seit Max Schmeling zu werden.
Am Samstagabend trifft Kabayel (32) in Riad auf den Chinesen Zhilei Zhang (ca 18.30 Uhr/DAZN). Der Kampf steigt im pompösen Rahmen des „Last Crescendo“, einer Kampfnacht der Superlative in Riad in Saudi-Arabien. In der ersten Reihe am Ring sitzt wahrscheinlich Fußball-Popstar Cristiano Ronaldo. Kabayel hat alle seine Profikämpfe gewonnen - wenn er auch Zhang schlägt, ist er Interims-Weltmeister und darf voraussichtlich um einen WM-Titel kämpfen.
Agit Kabayel: Ein riesiger Kontrast zwischen Riad und Wattenscheid
„Dass Deutschland Agit Kabayel akzeptiert, das wäre das Größte.“
Zwischen der Glitzerwelt von Riad, wo Millionensummen fließen (auch an Kabayel), und den Straßen von Wattenscheid könnte der Kontrast kaum größer sein. Kabayel ist in Leverkusen als Kind kurdischer Einwanderer geboren. Die Eltern zogen mit ihren beiden Söhnen dann ins Ruhrgebiet, übernahmen eine Dönerbude in der Wattenscheider Innenstadt. „Zwei Jahre haben wir hinten in der Gastronomie gewohnt. Hinter dem Imbiss war ein Raum, da wurde halt ein Schlafzimmer draus gemacht“, sagt Kabayel.
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
Später zog Familie Kabayel in eine kleine Wohnung in der Vorstadtstraße, zwei Eltern, drei Kinder. „Wir haben zu fünft in einem Zimmer geschlafen. Lernen konnte ich da nie, in der Schule habe ich nichts gerissen“, erinnert sich Kabayel. „Aber die Wohnung war für uns schon Luxus.“ Die Zeit habe ihn geprägt, sagt Kabayel, der zwar in Düsseldorf trainiert, aber immer noch gemeinsam mit seinen Eltern in einem Haus in Wattenscheid wohnt. „Ich weiß alles im Leben zu schätzen. Auch wenn es mir jetzt finanziell sehr, sehr gut geht, haue ich das Geld nicht zum Fenster raus. Ich weiß, wie es ganz unten ist.“
Kabayel über seine Herkunft: „Wenn jemand sagt, er ist deutsch, sollte man es akzeptieren“
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Er hat sich da rausgekämpft, vermisst aber den Respekt: „Ich habe einen kurdischen Background, ich bin aber hier groß geworden, ich kämpfe für dieses Land. Wenn jemand sagt, er ist deutsch, sollte man es akzeptieren. In der Schule wollten wir die Anerkennung haben, auch von den Mitschülern: Wir akzeptieren dich, du bist Deutscher. Die Anerkennung will ich heute auch vom deutschen Publikum vor dem Fernseher.“
Kabayel spricht von einer „harten“ Kindheit, aber niemals in einem schlechten Sinn. Die Nachmittage verbrachte er mit den Jungs auf dem Bolzplatz - einer davon war der einige Jahre jüngere Leroy Sané. Der sei damals schon so gut gewesen, dass ihn die älteren Jungs nicht mitspielen lassen wollten, erinnert sich Kabayel. „Diese Zeit hat mich übertrieben geprägt. Ich erinnere mich sehr gerne zurück.“
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Als Teenager war Kabayel ein Frust-Esser, sagt er, mit seinem Körper unzufrieden. Boxen war der Ausweg, allerdings als Hobby, bis er mit 19 Profi wurde, zuerst gegen den Willen seiner Mutter. Nach der Hauptschule machte Kabayel eine Ausbildung zum Gleisbauer in Herne. „Das war schlimm. Jeden morgen 5.30 Uhr aufstehen, 6.10 Uhr den Zug nehmen. Ich hab jeden morgen mein Leben verflucht. Ich frage mich heute manchmal, wie ich es geschafft habe, dreimal die Woche zu trainieren.“
Am Anfang seiner Profikarriere war Kabayel „immer im Minus“
Trainer Sükrü Aksu erkannte Kabayels Talent, bis heute arbeiten die beiden zusammen. Auch als Boxer brauchte Kabayel aber Durchhaltevermögen. „Ich war immer im Minus. Alle dachten, ich mache richtig Geld, aber für die ersten Profikämpfe habe ich mal 300 Euro bekommen.“ Und immer wieder kamen Rückschläge, wie etwa Kampf-Absagen, oder auch die Corona-Pandemie.
Sein Durchbruch war der erste Auftritt 2023 in Riad, als er den Russen Arslanbek Makhmudov k.o. schlug - das sorgte für internationales Aufsehen. Auch gegen Frank Sanchez gewann er vorzeitig, international gilt Kabayel jetzt als einer der besten drei der Welt im Schwergewicht.
Kabayel hat einen klaren Weg zum WM-Kampf
Der Weg zum WM-Titel scheint vorgezeichnet: Als erstes muss er Zhang schlagen, danach kann er im besten Fall Mehrfach-Weltmeister Oleksandr Usyk herausfordern. Damit will er es allen zeigen, vor allem in Deutschland. Kabayel wünscht sich, eine Box-Euphorie auszulösen wie einst die Klitschkos, fühlt sich aber von der Öffentlichkeit und besonders den öffentlich-rechtlichen Medien nicht wahrgenommen oder wertgeschätzt. „Mein Ziel ist Weltmeister im Schwergewicht zu werden“, sagt er. Aber auch: „Dass Deutschland Agit Kabayel akzeptiert, das wäre das Größte.“
Seine Herkunft ist Kabayel dabei nicht peinlich, im Gegenteil, er stellt sie immer wieder in den Vordergrund. Dönerbude, Bolzplatz, Ausbildung als Gleisbauer. Agit Kabayel: Das sind mehr als 100 Kilo Ruhrpott-Klischee mit breitem Grinsen und einem Weltklasse-Leberhaken. Und so einer soll kein Deutscher sein?
Das Gefühl, nicht dazuzugehören, ist für Kabayel ein großes Thema
Das versteht Kabayel nicht. Das Gefühl, nicht dazuzugehören, ist für ihn ein großes Thema. Zwei Sachen findet er wichtig, wenn es um das Zusammenleben von Deutschen und Ausländern, aber auch die politische Stimmung geht: „Wenn man fremd in einem Land ist, dann muss man sich an die Regeln halten, das gilt auch so vom Islam aus“, sagt der Muslim Kabayel. Und: „Es geht viel um die Leute die Scheiße bauen, weil das mehr polarisiert und Medien Klicks bringt. Zeigt doch mal auf die Leute, die gut sind.“
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