Wattenscheid. Ein Aufstiegsfinale vor 6000 Fans, Aufholjagden zuhauf, ein Sieg zum Abschluss des Jahres. Aber die SGW hat mehr erreicht als sportlichen Erfolg.
Ganz nüchtern betrachtet steht die SG Wattenscheid 09 am Ende des Jahres 2022 auf dem vorletzten Platz der Fußball-Regionalliga, mit nur noch zwei Punkten Rückstand auf die Nichtabstiegsplätze. Das ist gut. Aber wie so oft, wenn es um 09 geht, wird man der Sache nicht gerecht, wenn man die Dinge ganz nüchtern betrachtet, weil dann viel zu viel von dem verloren geht, was den Klub ausmacht. Wattenscheids Sportvorstand Christian Pozo y Tamayo antwortet auf die Frage, mit welchem Satz er das Jahr zusammenfassen würde, stattdessen so: „Wir sind wieder da.“
2022 war das Jahr, in dem die SGW erstmals seit 2018 (!) wieder ein komplettes Jahr Fußball gespielt hat. Das erste komplette Kalenderjahr im Spielbetrieb nach Insolvenz, Zwangsabstieg und Corona-Pandemie. 2022 war die Rückkehr in die Regionalliga, wo die SGW nach Anlaufschwierigkeiten Fuß gefasst hat – bemerkenswerte sportliche Leistungen angesichts der wirtschaftlichen Umstände. Noch wichtiger war aber, wie Mannschaft, Club und Anhänger an diesen Punkt gekommen sind.
Das Jahr 2022 begann die SGW als Verfolger im Oberliga-Aufstiegskampf. Vom Aufstieg mochte aber kaum ein Spieler so richtig reden, dazu gab es auch selten Anlass. 0:3 im Topspiel bei der U21 des SC Paderborn – spielt so ein Aufstiegskandidat? Im April folgten drei Spitzenspiele in Serie ohne Sieg. Wattenscheid war abgeschrieben. Zu früh.
SG Wattenscheid 09: Mehr als sechstausend beim Aufstiegsspiel
Wattenscheid gewann nach 0:1-Rückstand beim ASC Dortmund, die Initialzündung für Aufholjagden auf dem Platz und in der Tabelle. 2:1 nach Rückstand in Erndtebrück. Eine Woche später reichte ein glanzloses 2:0 über Eintracht Rheine, um mehr als 6000, sechstausend!, Fans im Lohrheidestadion einen der besten Pfingstmontage ihres Lebens zu bescheren.
Die SGW war zurück in der Regionalliga, aber noch nicht regionalliga-tauglich. Der Preis für den nicht geplanten Aufstieg: eine zerfahrene Vorbereitung, ein katastrophaler Start. 16 Gegentore in drei Spielen, das historische 0:8 in Ahlen. Wattenscheid: abgeschrieben. 0:4 gegen das punktlose Schlusslicht Straelen: abgeschrieben. Zwischendurch verlängerte der Verein den Vertrag mit Trainer Christian Britscho – unüblich, von außen damals schwer nachvollziehbar, aus Wattenscheider Sicht aber konsequent – und ein starkes Signal.
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Es dauerte, aber Britscho brachte das Team in die Spur. Knackpunkt war das 2:1 über Schalkes U23, als praktisch genauso viele Wattenscheider Spieler verletzt und krank ausfielen, wie im Kader standen. „Das war befreiend“, erinnert sich Pozo y Tamayo. Bezeichnend: Die SG Wattenscheid 09 war 2022 immer dann am besten, wenn niemand mehr etwas von ihr erwartet hat. Warum das so ist, können Spieler, Trainer und Vorstand nicht beantworten, das geben sie offen zu. Ist es eine Qualität? Ist es ein Problem? Vielleicht wird 2023 es zeigen.
Zumindest stimmten in den vergangenen Wochen die sportlichen Resultate immer öfter: Drei Siege nach Rückständen in den letzten fünf Spielen, zwischendrin die 4:5-Niederlage im Spiel des Jahres (oder Jahrzehnts?) gegen Preußen Münster. Das 4:3 (0:2) gegen Ahlen war der Abschluss, den das Jahr verdient hatte. Elf von 18 Punkten hat die SGW nach Rückstand geholt, andererseits verspielte Wattenscheid auch einige Punkte unnötig. Die Tabellensituation ergibt Sinn – der Weg dorthin war Wahnsinn.
Die Fans kommen wieder gerne ins Lohrheidestadion
Aussagekräftiger als die Punktausbeute ist am Ende des Jahres deshalb vielleicht eine andere Zahl: 1264 Fans in Heimspielen ist der siebtbeste Schnitt aller Regionalligisten. „Die Jungs haben sich das verdient“, sagt Sportvorstand Christian Pozo y Tamayo.
Und das ist wichtiger als alle sportlichen Erfolge: Die SG Wattenscheid ist Ende 2022 nicht nur ein Verein, um den sich seine Fans nicht mehr ständig sorgen, manchmal schämen müssen, sondern der auch über die Stadtteilgrenzen hinaus viele neue Sympathien geweckt hat. Und die SGW hat eine Mannschaft, für die die Menschen gerne ins Stadion kommen.
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Wirtschaftlich ist der Klub gut aufgestellt
Das ist eine gute Ausgangslage für die Zukunft, vielleicht eine bessere, als die SGW sie lange hatte. Der Verein ist „wirtschaftlich gut aufgestellt“ (Pozo). Auch wenn der Wiederabstieg möglich ist, ja wahrscheinlicher scheint als der Klassenerhalt: vorzeitig abschreiben wird die SGW 2023 niemand mehr.
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