Wattenscheid. Ralf Hönicke ist Fan der SG Wattenscheid. Und ein Mensch, der anderen Mut machen kann. Obwohl er kaum etwas sieht, ist er bei fast jedem Spiel.
Jetzt gut aufpassen, denn jedes Wort könnte wichtig sein. Seine Worte und auch das eigene, vor allem aber der Klang. Denn manchmal, so scheint es, erahnt er schon anhand der Schwingung in der Stimme, was sein Gegenüber gerade gedanklich beschäftigt, das wird noch einmal wichtig.
Wenn er dann anfängt zu reden, klingt das so präzise und bedacht, als würde er einen Text diktieren. Dann erinnert allenfalls noch das schnörkellose Idiom an seine Herkunft, das Ruhrgebiet. Auch wenn er bereits seit Jahren in Münster lebt: Fast alles von dem, was ihn ausmache, sagt er, habe er aus dem Pott, seiner Heimatregion. Und da zählt ja vor allem die raue Ehrlichkeit.
Ein Gespräch mit Ralf Hönicke über Wattenscheid 09 kann deshalb schnell eine unerwartete Wendung nehmen. Nach wenigen Minuten geht es nicht mehr um „seinen“ Verein, sondern um lieb gewonnene Menschen, um Erlebnisse und Erkenntnisse, aber auch um Enttäuschungen. Und um Erfahrungen, die er wohl lieber nicht gemacht hätte. Wie etwa die mit seiner Diagnose, die er 1990 bekam. Eine seltene Erbkrankheit, bei der nach und nach Teile der Netzhaut absterben.
Wattenscheid 09: Ralf Hönicke reist zu fast jedem Spiel aus Münster an
Inzwischen ist Ralf Hönicke, treuer Anhänger der SG Wattenscheid 09, fast blind. Ins Stadion geht er trotzdem, ganz gleich, ob 09 zuhause spielt oder auswärts. Im Kampf gegen Retinitis Pigmentosa, so heißt seine Krankheit, siegt bisweilen die Normalität des Alltags. Und Wattenscheid ist ein Teil davon, auch wenn dort vieles nie normal war und ist.
Sein Platz im Stadion, da, wo ihn alle kennen und wo er sich zuhause fühlt, das ist normal für ihn. Ein Ort, den er selbstverständlich als sein Wohnzimmer betrachtet, obwohl sein richtiges in Münster ist. Wegen der öffentlichen Verkehrsmittel, sagt er. Mit denen fährt er zu jedem Heim- und Auswärtsspiel seines Klubs.
Eine Bahndlungsmöglichkeit gibt es für seine Krankheit noch nicht
In diesem Jahr erlebt Ralf Hönicke den Aufstieg mit, einen von mehreren. Es ist das Auswärtsspiel in Rhynern, Ralf Hönicke gönnt sich die Mitfahrt im Auto. Treffpunkt ist ein Parkplatz, das Winken kann er natürlich nicht sehen. Gewöhnungssache für seine Begleitung. Dann das Geständnis des Missgeschicks. „Wink einfach lauter“, sagt er und lacht nicht. Auch den kleinlaut zugegebenen knappen Rotlichtverstoß kommentiert er trocken: „Ich hab’ nichts gesehen.“
Es gebe Tage, sagt er, da setze ihm die Krankheit nicht so sehr zu. Dann sei er beinahe etwas euphorisch, bis er dann vor ein Hindernis laufe. „Dann tu ich mir höllisch weh und denke ‚scheiße‘“. Tagsüber kommt er, der ohne Langstock und Armbinde durch die Gegend spaziert, gut zurecht. Nachts sieht er kaum noch etwas, erzählt er. Eine Behandlungsmöglichkeit für die Krankheit gibt es noch nicht, kaum 40.000 Betroffene warten in Deutschland auf den Durchbruch.
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An einem Abend im Oktober meldet er sich per Sprachnachricht, das ist einfacher. Das Tippen auf dem Handy ist schwierig, wie so vieles mehr. „Ich hatte einen weiteren Schub“, erklärt er, schwenkt danach aber um: „Ich klage nicht, aber mache ich sowieso selten.“
Freunde hat er verloren, aber der Verein ist Ralf Hönicke geblieben
Stattdessen möchte er lieber reden. Über sein Leben, über Wattenscheid 09. Nicht über seine Augen, die ihn mehr und mehr im Stich lassen, die aber eine besondere Geschichte seines Lebens erzählen, mit der er sich abgefunden hat, auch wenn sich um ihn herum viel verändert hat. Erst schnell, dann immer langsamer.
Mehr als dreißig Jahre lebt er mit der Diagnose. Nachdem er die ersten Probleme hatte, habe er viele Menschen aus seinem Umfeld verloren. „Ich war nicht mehr der geniale Sportler und Freizeitgestalter, einige wundervoll geglaubte Kontakte habe ich dadurch verloren.“ Einige Freunde und Sportkameraden gingen, Wattenscheid 09 ist ihm geblieben, sein Herzensverein.
Eine Liebe, die er nicht erklären kann, aber versuchen will er es. Vielleicht liegt es daran, dass beide – der ehemalige Bundesligist und Ralf Hönicke – einen Kampf ausgetragen haben, den sie nach eigenem Dafürhalten längst gewonnen haben, in der Wahrnehmung von außen aber immer noch bestreiten. Auf der einen Seite der chronisch unterfinanzierte Traditionsverein, der sich neu erfunden hat. Auf der anderen Seite ein Mann, der immer schlechter sehen kann, mit dem Alltag aber immer besser zurecht kommt, ohne dass er die oft angebotene Hilfe in Anspruch nimmt. Beides macht Eindruck.
SGW-Kapitän Jakubowski: „Er ist eine herzensgute Seele“
Als „irgendwie ein bisschen wahnsinnig, beeindruckend, aber auch irgendwie als herzensgute Seele“, beschreibt ihn Norman Jakubowski, Kapitän der SG Wattenscheid. Er kennt Ralf Hönicke schon lange, pflegt ein enges Verhältnis zum Vater seines früheren Mannschaftskollegen Nils. Längst ist die Verbindung eine geworden, die über den Fußball hinausgeht, wie vieles, was Wattenscheid 09 und Ralf Hönicke betrifft. Denn manchmal ist der 59-Jährige auch Seelsorger für die Spieler: „Er ist jemand, der Gefühle zulässt, aber die auch ziemlich empathisch aufnehmen kann“, sagt Norman Jakubowski.
Zurück in Rhynern. Da verliert Wattenscheid mit 0:1, das Spiel ist schwach. „Wer hat den Ball verloren?“, will er wissen, die Aktion war wenige Meter vor seinem Platz. Dann beschwert er sich: „Kein Abseits.“ Das war weiter weg, am Rand des eigentlichen Sichtfelds. Das konnte er sehen. Alles, was mittig liegt, nicht. Sein Handy zum Beispiel. Das läuft nur über Sprachsteuerung. Im linken Ohr hat er einen Kopfhörer, lässt sich die Zwischenstände auf den anderen Plätzen durchsagen. Aus Wattenscheider Sicht ist es ernüchternd.
Ein Tor hört sich an wie ein Trommeln
Wenig lässt an diesem Tag vermuten, dass der Verein in der ersten vollständigen Saison nach dem Rückzug aus dem Spielbetrieb wieder in die Regionalliga aufsteigt. Einige Wochen später steht Ralf Hönicke trotzdem auf der Tribüne im Lohrheidestadion. Er erzählt, wie es sich für ihn anfühlt, wenn ein Tor fällt.
Wie ein Trommeln sei das, „als würde ein Drummer auf die Base schlagen. Erst langsam, dann immer schneller. Irgendwann ist der Ball im Tor. Das merke ich, kurz bevor er drin ist.“ Stimmen, Schwingungen, alles um ihn herum deute darauf hin, dass bald etwas passiert.
Seine Ohren helfen ihm dabei, sie geben ein Stück Normalität zurück. In Wattenscheid ist er eben einer unter vielen, die wie er, so sagt er „einen Nagel im Kopf haben“.
Anders als mit dieser liebevoll gemeinten Selbstbeschreibung wäre wohl kaum zu erklären, warum er den Stress mit den Bahnfahrten aus der westfälischen Stadt in den Pott durchmacht. Spiel für Spiel. Vielleicht, weil er hier einer von denen ist, die einfach frei Schnauze sagen können, was sie wollen, wie er es so gern macht. Oder auch, weil in seiner Heimat lieber schnell gehandelt und in den Farben zusammengehalten wird.
Er verliert nicht die Hoffnung auf den Tag, an dem er wieder sehen kann
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Als Ralf Hönicke mal unterwegs zu einem Spiel war, habe ein Sportwagen durch die Menschenmenge nahe der Haltestelle fahren wollen. Auf dessen Hupen habe der Tross von SGW-Fans so pragmatisch reagiert, wie es Ralf Hönicke gern mag: „20 Mann sind um das Auto, haben es hochgehoben und auf die Gleise gestellt. Der kam da nicht mehr weg“, erinnert er sich und lacht herzhaft.
Es ist einer der wenigen Ausbrüche in einem über lange Zeit ruhigen und bedachten Gespräch. Immer wieder wird er nachdenklich, vor allem, wenn er über seine Krankheit spricht. Oder über die Hoffnung, eines Tages wieder sehen zu können.
Dann wolle er mit seinen Kindern und deren Partnerinnen und Partnern durch Amerika reisen. Aber das werde er so oder so machen, sein Leben führt er ja normal, wie er immer wieder sagt.
Und doch sitzt da etwas fest, das dringt aber nur selten durch. Irgendwann dann schon: „An dem Tag, an dem klar ist, dass ich wieder sehen kann, erfahren es meine Familie und Freunde als erste“, verspricht er. Nicht etwa, weil auch die ständig nach Neuigkeiten suchen: „Mein Freudenschrei wird überall auf der Welt zu hören sein.“ Und wieder lacht er nicht.
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