Rio de Janeiro. 2006 vom Co- zum Cheftrainer: Bundestrainer Joachim Löw begann vor acht Jahren sein Titel-Projekt. Nun steht er vor der Vollendung. Dabei hatte ihm das fast niemand mehr zugetraut, weil entscheidende Partien in den letzten Jahren verloren gingen.
Vielleicht ist Joachim Löw ein poetischer Mensch. Das ist vorstellbar. Wahrscheinlich aber sind es eher schnelle, schmucklose Sätze, die der Bundestrainer in sein Tagebuch schreibt. Es ist ein DIN-A5-Heft im Ledereinband. Ein Lesezeichen in Schwarz, Rot und Gold klemmt darin. Vorn, auf den ersten Seiten, sind Fotos der WM-Sieger von 1954, ‘74 und ‘90 abgebildet – dazu welche vom Turnier 2006 in Deutschland. Hinten sind all die Namen der Spieler aufgelistet, die Löw mit zum Weltturnier nach Brasilien genommen hat. Dazwischen notiert er seine Gedanken. Praktische sind dabei: Mit welchem Spieler habe ich gesprochen? Worum ging es? Welche Trainingseindrücke hatte ich? Und dann gibt es aber auch noch die Niederschriften über seine Ziele und seine Gefühle.
Löw schreibt nicht täglich, aber regelmäßig und seit Jahren schon. Man würde gern einen Blick reinwerfen in dieses Zeugnis seines Seelenlebens, aber das wird es nicht geben. Das schwarze Tagebuch mit dem Deutschland-Lesezeichen ist Löw als Bundestrainer zwischen zwei Weichpappedeckeln: Allen voran steht die Last, es seinen Vorgängern Herberger, Schön und Beckenbauer gleichtun zu müssen. Die Weltmeister-Fotos auf den ersten Seiten sind eine freundliche aber bestimmende Erinnerung an das Gestern und daran, was gefälligst morgen zu kommen hat. Es folgt, wie alles für Löw anfing 2006, als er noch Assistenztrainer von Jürgen Klinsmann war. Und am Schluss stehen die, mit denen er den Kreis zu schließen und in Brasilien aufzurücken gedenkt zu den drei Weltmeistertrainern vor ihm. Dazwischen finden sich viele, viele Seiten persönlicher Verarbeitung seines Weges. Und es ist anzunehmen, dass sich so manche Zeile darum dreht, wie unverstanden Löw sich dabei manchmal gefühlt hat.
Löw schlug eine zuvor ungekannte Skepsis entgegen
Im Sommer 2006 begann der gelernte Großhandelskaufmann sein Titel-Projekt mit der deutschen Nationalmannschaft. Wenige Tage nach dem gewonnenen Spiel um Platz drei bei der Heim-WM überzeugte ihn Klinsmann im schlichten schwarzwälder „Hotel Engel“ in Baiersbronn, seinen Job zu übernehmen. Löw hatte zunächst gezögert und sich dann doch dafür entschieden, aus dem Schattendasein des Co-Trainers heraus ins Schlaglicht der Öffentlichkeit zu treten. Acht Jahre später, am heutigen Sonntag, steht er im WM-Finale gegen Argentinien im Maracana von Rio de Janeiro (21 Uhr, live in unserem Ticker) vor der Vollendung seines Unterfangens. Dass sich diese Gelegenheit noch einmal bieten würde, das hatte ihm fast niemand mehr zugetraut. Zum vierten Mal hat der 54-Jährige seine Mannschaft dicht herangeführt an einen Titelgewinn. Drei Mal war er zuvor knapp gescheitert.
Es gibt Spiele, die bleiben an einem Trainer haften. Für Löw war es vor allem das EM-Halbfinale gegen Italien 2012. Er hatte sich vertan. Er hatte seine Taktik verändert. Mario Balotelli durfte seine Muskeln zeigen, und Deutschland war wieder einmal kurz vor dem Ziel gescheitert. Löw, der Schönling und Liebhaber schöner Dinge, war in der öffentlichen Wahrnehmung endgültig zum reinen Schönspieler geworden, der in entscheidenden Partien versagt. Die Frage ist natürlich, was eigentlich entscheidende Partien sind? Im Zweifel immer die, die einer verliert. Aber auf Nachsicht konnte Löw nun nicht mehr setzen. Das EM-Endspiel gegen Spanien 2008 hatte er verloren, ebenso das WM-Halbfinale 2010.Das konnte kein Zufall sein. Löw schlug nun eine zuvor ungekannte Skepsis und ein Misstrauen entgegen, und das zog sich weit hinein bis ins Turnier in Brasilien. Die Zweifel dokumentierten sich schon bei der Kadernominierung, als Löw sich nur für Mirolsav Klose als einzigen echten Stürmer entschied und dafür Kritik erntete, und sie traten auch in den ewigen Debatten um die „richtige“ Position für Philipp Lahm hervor.
Löw als der stille Flaneur am Strand von Santo André
Löw selbst hat das verwundert. Er fühlte sich missverstanden. Die krassen Reaktionen nach dem EM-Aus gegen Italien hatten ihn schwer getroffen, aber die Gedanken daran, alles hinzuschmeißen, verwarf er. Dass Brasilien nun seine letzte Chance sein würde, sein Titel-Projekt erfolgreich zu beenden, davon musste er ausgehen. Und es schien, als befreie dieser Umstand den Bundestrainer. Das in der Außendarstellung katastrophale Trainingslager in Südtirol vor der WM – sein entzogener Führerschein wegen Raserei, die Querelen um die Hotelpinkelaffäre von Kevin Großkreutz sowie der Autounfall bei einem Sponsorentermin –, Löw hat das alles von sich fern zu halten versucht. Stoisch. Zurückgezogen. Wie zwischen zwei Scheuklappen. Nur zwei Mal in fünf Wochen während des Turniers erschien Löw auf einer Pressekonferenz, zu der er nicht durch das Fifa-Reglement gezwungen war, wie am Tag vor den Spielen. Nur zwei Interviews gab er. Das war bei den Turnieren davor noch anders. Das Bild von Löw in Brasilien, das bleiben wird, ist das des stillen Flaneurs am Strand von Santo André. Kopfhörer in den Ohren, Sonnenbrille im Gesicht. Einsam und abgeschottet geht Löw seinen Weg, während unmittelbar neben ihm die Wellen toben.
Zum Anfang seiner Karriere als Bundestrainer habe er noch versucht, manches Mal eine Rolle einzunehmen, die man von ihm erwarte, und sich der öffentlichen Meinung anzupassen, hat Löw kurz vor der WM in einem Zeit-Interview erzählt. „Aber ich habe schnell erkannt, dass das Blödsinn ist. Ich habe schnell gemerkt: Ich kann nur überzeugen, wenn ich nach meiner Intuition handle und meinem Gefühl folge“, sagte Löw.
Löw soll Spieler in Entscheidungsfindung miteinbezogen haben
In Brasilien wich er zum ersten Mal von seinem Ideal des schönen Spiels ab und legte einen Pragmatismus an den Tag, von dem er glaubte, er werde ihn zum Erfolg führen: stabilisierte Defensive, Standardsituationen als Stilmittel und eine Abkehr vom Hurrafußball früherer Tage. Eine Anpassung an Volkes Wille aber war das nicht. Löw hatte seinen Fußball an den Bedingungen vor Ort orientiert, von denen er annahm, sie ließen das zuvor kraftraubende Tempospiel nicht dauerhaft zu. Zudem hört man aus dem Umkreis der Mannschaft, dass Löw seine Spieler bei diesem Turnier so stark in seine Entscheidungsfindung miteinbezogen habe, wie niemals zuvor. Das Formen einer WM-Mannschaft müsse man sich vorstellen wie die Erziehung von Kindern, hatte Löw kurz vor der WM gesagt – und gemeint war damit nicht die harte Hand, sondern das Erklären und Mitnehmen im Reifeprozess zu Weltmeistern.
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Es scheint also zwei Joachim Löws bei dieser WM gegeben zu haben: den Sturkopf nach außen, der sich der Öffentlichkeit so sehr entzog, wie er konnte, und den offenen, kommunikativen nach innen. Das Außen und das Innen, das hat in Brasilien eine zentrale Rolle für Löw gespielt. Nach Außen drang fast nichts. Was Innen war, das weiß Löws ledernes Tagebuch, aber es wird der Öffentlichkeit wohl für immer verborgen bleiben. Sollte Joachim Löw nun im vierten Anlauf den Titel gewinnen, wäre es eine finale Genugtuung für ihn und die Vollendung seines Projekts mit der deutschen Nationalelf. Der Eintrag zum 13. Juli 2014 in seinem Tagebuch dürfte dann einer voller Glückseligkeit und vielleicht auch einer mit ein bisschen Poesie sein. Es könnte sogar so kommen, dass dies sein letzter als Bundestrainer ist.