Santo André. Joachim Löw ist länger im Amt als Angela Merkel. Die Bundeskanzlerin übernahm die Regierung 2005, Löw ist seit 2004 bei der Nationalelf, zunächst als Jürgen Klinsmanns Taktik-Hirn, dann als Alleinherrscher. Die WM ist Löws fünftes Turnier. Viele fragen schon jetzt: Wird es sein letztes Turnier?
Joachim Löw ist abergläubisch. Zumindest ein bisschen. Immer muss er in Reihe 1, Platz A sitzen. Auch die Seitenwahl vor den Spielen verfolgt der Bundestrainer sehr angespannt. Und sogar sein glücksbringender Kaschmirpullover brachte es bei der vergangenen Fußball-WM in Südafrika zu nationaler Berühmtheit. In Brasilien hofft Löw nun auf ein Ungeheuer. Natürlich kein echtes. Es ist ein aus Holz geschnitztes Biest, das am Eingang seines Bungalows in Santo Andrés Campo Bahia neben der Fußmatte aufpasst und all das Böse und Unglück dieser Welt vertreiben soll.
Ganz schön viel Arbeit für so ein kleines Holz-Ungeheuer.
Vertrauen in Löw ist erschüttert
Denn ausgerechnet der Mann, der es noch vor der WM 2010 bei einer „Spiegel“-Suche nach den vorbildlichsten Deutschen auf den dritten Rang schaffte, hatte zuletzt so gar kein Glück mehr. Ein Vorbild ist Löw spätestens nicht mehr seit dem Verlust seines Führerscheins wegen Raserei. Und Vertrauen haben die Deutschen in den Bundestrainer mit dem besten Punkteschnitt der Geschichte auch nicht mehr. Schuld ist nicht sein zu offensiver Fahrstil. Sondern seine zu defensive Taktik beim letzten großen Turnier. Und besonders seine Reaktion danach.
Taktikguru Löw hatte an diesem milden Juni-Abend 2012 im EM-Halbfinale gegen Italien in Warschau hoch gepokert – und alles verloren. Kroos, Podolski und Gomez rein, die zuvor so starken Reus, Schürrle und Klose raus. Der Rest der Geschichte ist bekannt: Deutschland verlor 1:2 gegen die Squadra Azzura – und „Bild“ fragte am Tag danach in großen Buchstaben: „Werfen Sie hin, Herr Löw?“
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Es mag ungeheuerlich klingen, aber 710 Tage später ist Herr Löw noch immer da. Die Welt im Allgemeinen dreht sich weiter, aber die Welt der Deutschen bleibt konstant. Angela Merkel regiert das Land seit 2005, Joachim Löw ist sogar schon seit 2004 Deutschlands Fußball-Staatsoberhaupt. Zunächst zwei Jahre lang als Jürgen Klinsmanns Taktik-Hirn, dann, ab 2006, als Alleinherrscher. Die WM in Brasilien ist das fünfte Turnier des Badeners, sein viertes als Cheftrainer der Nationalelf. Nur diesmal fragen sich viele schon jetzt: wird es sein letztes Turnier?
Löw genießt den WM-Trip nach Brasilien
Ungeachtet aller Diskussionen in der Heimat scheint Löw den abenteuerlichen Trip ans andere Ende der Welt zu genießen. Auf dem Sonderflug LH 2014 von Frankfurt nach Salvador genehmigte sich der 54 Jahre alte Fußballlehrer ein Glas Champagner. Und nach der Ankunft mit der Fähre am Anleger von Santo André zückte der sonst zurückhaltende Espresso-Liebhaber sein Handy und filmte begeistert den herzlichen Empfang.
Auf einen ähnlich freundlichen Empfang in der Heimat darf Löw wohl nur dann hoffen, wenn er in Brasilien das Unmögliche möglich macht: Er muss Weltmeister werden. Wenn die DFB-Auswahl wider erwarten bereits in der Vorrunde ausscheiden würde, sagte Löw vor einigen Tagen, „dann wäre eine Veränderung nötig“. Was er nicht sagte: auch bei einer Niederlage im Achtel- oder Viertelfinale wäre eine Trennung trotz seines Vertrags bis 2016 wahrscheinlich.
Nur warum eigentlich?
Vielleicht, weil Löw die geballte und teils auch brutale Kritik nach dem EM-Aus vor zwei Jahren nie so richtig verstehen und schon gar nicht überwinden konnte. Als er zwei Monate nach der Pleite mit einem 25-Minuten-Monolog zum Gegenschlag ausholte, schüttelten nicht nur Medienvertreter und Fans den Kopf. Auch der eine oder andere Funktionär hätte sich ein bisschen mehr Reue gewünscht.
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Fortan stand Löw unter Beobachtung. Bei den Medien. Bei den Fans. Und bei den Funktionären. Letztere tuschelten hinter vorgehaltener Hand, dass der Wahl-Freiburger zwar gerne über den großen Fußball philosophiere, sich aber überwiegend in den für ihn bequem zu erreichenden Arenen von Stuttgart, Hoffenheim und Freiburg herumtreiben würde. Auch der Zeitpunkt, an dem Löws Führerscheinverlust bekannt wurde, sorgte intern für mächtig Ärger, weil er den Fauxpas nicht öffentlich gemacht hatte. Es sind Hinter-dem-Rücken-Lästereien. Gerecht sind sie wohl nicht, aber gerecht war der Fußball noch nie.
Als Bundestrainer eine Fußball-Generation geprägt
Dabei hat wahrscheinlich kein Bundestrainer den Fußball einer Generation geprägt wie Löw. Er hat aus Rumpelfüßlern Hochgeschwindigkeitskicker gemacht, hat Fußball-Deutschland mit dem EM-Vizetitel 2008 überrascht, mit dem Turbospiel bei der WM 2010 verzückt und auch bis zum EM-Halbfinale 2012 gegen Italien träumen lassen. Doch die Erfolge im Fußball sind so schnell vergessen wie Wahlversprechen in der Politik.
Vielleicht hat Löw bislang auch nur ein kleines bisschen Glück gefehlt. Und vielleicht kann er sich diesmal zumindest auf eines verlassen: auf sein Holz-Ungeheuer vor der Tür.