Gelsenkirchen. Timo Baumgartl ist neu auf Schalke. In der Vorsaison besiegte er eine Krebs-Erkrankung. Wie ihn das geprägt hat, erzählt er im Interview.

Timo Baumgartl kommt gerade vom Training in der Gymnastikhalle, er ist gut gelaunt, nimmt zum Interview Platz. Noch kennt der 27-Jährige nicht alle Wege auf dem großen Klubgelände des Zweitligisten FC Schalke 04, erst seit drei Wochen ist der neue Abwehrchef da, zuletzt spielte er für den Bundesligisten 1. FC Union Berlin. Baumgartl hat eine spezielle Geschichte hinter sich, im vergangenen Jahr überstand er eine Hodenkrebs-Erkrankung. Es beginnt ein nachdenkliches Gespräch.

Was haben Sie gedacht, als André Hechelmann, der Sportdirektor, Sie angerufen hat?

Timo Baumgartl: Das war schon im Juni. Ich habe damals mit vielen Vereinen, auch Erstligisten, gesprochen, es hat sich aber herauskristallisiert, dass es bei vielen Bundesligisten wegen meiner überstandenen Erkrankung Skepsis gab. In der Rückrunde hatte ich deshalb auch wenig Spiele bestritten. Bei André und Schalke hingegen ging es nie um die Krankheit, sondern nur darum, dass sie mich unbedingt haben wollten. Deshalb habe ich mich für dieses Projekt entschieden. Auch weil es für mich wichtig ist, Fußball zu spielen und zu alter Form zurückzukommen. Das ist dann unabhängig davon, ob es ein Erst- oder Zweitligaverein ist.

Timo Baumgartl (r.) mit Schalke-Reporter Andreas Ernst.
Timo Baumgartl (r.) mit Schalke-Reporter Andreas Ernst. © aer

Sie haben zu ihrer Zeit bei Union Berlin in einem Loft im hippen Stadtteil Prenzlauer Berg gewohnt. Gelsenkirchen und das Ruhrgebiet sind da etwas anders…

Baumgartl: Ich war im Pott bisher nur in verschiedenen Stadien zum Fußball spielen, ich wusste, dass der Pott fußballverrückt ist. Ich habe mich schon damit beschäftigt, was auf mich zukommt, was Gelsenkirchen für eine Historie hat. Ich finde, dass man verstehen muss, woher die Fans eines Vereins kommen. Momentan wohne ich im Hotel, die Wohnungssuche gestaltet sich etwas schwieriger. Aber das ist ja aktuell überall so.

Hatten Sie denn schon Kontakt zum Ruhrgebiet?

Baumgartl: Nicht so viel. Einer meiner besten Freunde ist leidenschaftlicher Dortmund-Fan. Wir haben uns jetzt die Freundschaft gekündigt (lacht). Nein, das ist natürlich nur Spaß. Er hat aber schon geschmunzelt, als er erfahren hat, dass ich zu Schalke wechsele. Ich habe ihm ein Schalke-Trikot versprochen, das zieht er dann auch an, weil er Fan von mir ist.

Einer ihrer ersten Startelfeinsätze in der Bundesliga war beim VfB Stuttgart unter Huub Stevens, Schalkes Jahrhunderttrainer.

Baumgartl: Ab und zu kam das Knurren bei ihm durch (lacht). Ich war damals 18 Jahre alt, musste mich daran gewöhnen. Hinter dieser Fassade ist er ein herzensguter Mensch. Er hat mich unter seine Fittiche genommen, dafür werde ich ihm immer dankbar sein. Ich hoffe, dass ich ihn auf Schalke mal wiedersehe.

Sie tragen die Nummer 25. Die hat eine besondere Historie auf Schalke…

Baumgartl: Ja, das weiß ich. Ich habe auch gegen die Legende Klaas-Jan Huntelaar gespielt, und er hat gegen mich aus dem Nichts getroffen, wir haben 2:3 verloren. Die „25“ hatte ich auch in Eindhoven. Trotz alledem ist eine Nummer für mich persönlich nichts Weltbewegendes. Ob ich die 4, 5, 8, 10, 20, 25 habe, ist für mich nicht so wichtig.

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Was ist Profifußball überhaupt noch für Sie?

Baumgartl: Meine Sicht auf Fußball hat sich verändert. Er ist meine Leidenschaft, mein Beruf. Ich bin immer noch extrem ehrgeizig, aber ich kann Sachen besser einordnen. Die Krankheit hat vieles relativiert im Leben. Man muss dankbar dafür sein, aufzustehen und gesund zu sein. Ich habe mit vielen, die die Krankheit hatten, gesprochen, und alle sagen: Man versteht erst danach, was Leben ist. Man macht sich vorher viele Gedanken über Sachen, die nicht wichtig sind. Das hat sich verändert bei mir.

Was meinen Sie genau damit?

Baumgartl: Ich kann Dinge lockerer angehen. Der Ehrgeiz auf Erfolg ist ungebrochen, ohne den würde ich nicht mehr Fußball spielen. Aber man kann schlechtere Spiele oder Niederlagen besser einordnen. Das gehört zum Sport dazu, aber trotzdem gibt es noch ein anderes Leben.

Warum ist es für Sie wichtig, so offen über die Krankheit zu sprechen? Viele Bundesliga-Profis hatten diese Krankheit, Sie gehen besonders offensiv damit um.

Baumgartl: Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man zieht sich zurück oder man wird seiner Rolle gerecht. Als Profifußballer, so sehe ich es, hat man eine Vorbildfunktion, der man in so einer Situation gerecht werden kann. Ich möchte Menschen Mut geben, die diese oder eine andere Art von Krankheit haben. Ich habe das Gefühl, in der Gesellschaft ist es verpönt, krank zu sein. Viele möchten es mit sich selbst ausmachen, nicht darüber sprechen. Ich musste lernen, dass es halbes Leid ist, wenn man Emotionen, Gefühle und Krankheiten mit anderen Menschen teilt. Ich glaube fest daran: Wenn man seine Freunde, seine Familie und seine Vorbilder hat, die das gemeistert haben, gibt das Energie und Motivation, die tückische Krankheit zu besiegen. Außerdem ist es für mich wichtig aufzuklären, dass auch junge Menschen an manchen Arten von Krebs erkranken können. Ich glaube, es war vorher nicht jedem klar, dass man sich untersuchen lassen kann. Es wäre schön, wenn man die Chance hätte, sich wenigstens einmal im Jahr kostenfrei checken zu lassen. Auch das verfolge ich.

Der Trainer hat vor dem Kaiserslautern-Heimspiel von „Druck auf dem Kessel“ gesprochen – er meinte damit das erste Heimspiel der Saison, eine Reaktion auf die Niederlage in Hamburg. Es war Ihr erstes Spiel. Verspüren Sie aufgrund der Krankheit dann noch Druck?

Baumgartl: Ich versuche, es in positiven Druck umzuwandeln. Es ist Vorfreude da und natürlich bin ich angespannt. Man muss aber im Hinterkopf haben: Es ist ein Fußballspiel, in dem es um drei Punkte geht, die Meisterschaft wird nicht in einem Spiel entschieden.

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Im Fußball geht es nicht um Leben und Tod – gerade in Deutschland wird der Sport aber sehr, sehr ernst genommen. Stört Sie das inzwischen?

Baumgartl: Ich weiß, was Menschen für den Fußball opfern. Auch jetzt auf Schalke habe ich schnell gelernt, was der Verein ihnen bedeutet. Hier wird das letzte Hemd für eine Karte ausgegeben. Es ist etwas Essenzielles für die Menschen hier, ein Lebensgefühl. Ich weiß, dass eine Niederlage eine Woche nachhängt. Man versucht, den Menschen viele positive Erlebnisse zu geben. Aber gerade was im Bereich Social Media passiert, ist mir zu viel.

Inwiefern?

Baumgartl: Da wird es zu wichtig genommen. Jeder hat dort die Chance, negativ über Menschen zu urteilen, obwohl man sie nicht kennt. Das ist in Deutschland extrem, auch der Neid auf Fußballer. Das empfinde ich in anderen Ländern nicht so.

Sie äußern sich selbst viel in Sozialen Netzwerken wie Instagram und TikTok. Warum?

Baumgartl: Ich habe meine Geschichte und ihre verschiedenen Phasen in den Sozialen Netzwerken geteilt, auch mit Fotos. Ich habe gemerkt, dass es Menschen Mut gibt. Jetzt habe ich die Chance zu zeigen, dass man trotz dieser Krankheit sein altes Leben zurückbekommen kann. Ich habe es für mich als Plattform für Botschaften genutzt, da kann ich ungefiltert meine Meinung kundtun.

Ihr Mitspieler Dominick Drexler hat gar keinen Account. Er sagt, diese Tür habe er der Öffentlichkeit zugemacht.

Baumgartl: Er ist ein bisschen älter, vielleicht weiß er ja nicht, wie man damit umgeht… (lacht) Es macht mir Spaß, das ist mein Weg. Ich verstehe aber auch andere Entscheidungen. Das, was auf Instagram und TikTok passiert, ist natürlich nicht die wirkliche Welt.

Sie haben mal gesagt, dass Sie viel gelassener geworden sind. Können Sie so etwas weitergeben?

Baumgartl: Gelassenheit tut in meinen Augen jedem Menschen gut. Aber jeder Mensch ist individuell, hat eine andere Herangehensweise. Ich bin neu hier, ich tue gut daran, nicht alles auf links drehen zu wollen. Ich habe meine Art, Fußball zu spielen und meine Art, wie ich um den Platz herum bin. Wenn es Menschen erfreut, lasse ich sie gerne teilhaben. Menschen haben aber ihr gutes Recht, einen anderen Weg zu wählen. Ich bin in einem Alter, in dem ich einiges erlebt habe. Ich möchte gerne jungen Spielern helfen, wenn sie Fragen haben und etwas weitergeben.

Nachdenklich: Schalkes neuer Abwehrchef Timo Baumgartl.
Nachdenklich: Schalkes neuer Abwehrchef Timo Baumgartl. © firo

Ist der Ortswechsel von Berlin ins Ruhrgebiet allein dem Profifußball geschuldet oder ist es auch wichtig für Sie, weil die Fans auf Schalke mit Ihnen nicht sofort assoziieren, dass Sie an Krebs erkrankt waren?

Baumgartl: Für mich geht es auch darum, dass die öffentliche Wahrnehmung von der Krankheit weggeht. Auch deshalb bin ich hierhin gewechselt. Ich glaube, ich werde immer mit der Krankheit in Verbindung gebracht werden, weil sie zu meiner Geschichte gehört. Auf dem Platz hat das aber nichts mehr verloren. Es geht darum, so schnell wie möglich auf mein altes Leistungsniveau zu kommen.

Sie haben auf der Onkologie-Station auch viele Chemotherapie-Patienten gesehen, die teilweise gestorben sind. Verblassen solche Erinnerungen mit der Zeit?

Baumgartl: Nein. Die werden mich mein Leben lang begleiten. Ich kann sie einordnen. Dabei habe ich psychologische Hilfe in Anspruch genommen, das sage ich ganz offen. Für mich ist es ein Zeichen der Stärke, wenn man sich eingestehen kann, dass man professionelle Hilfe braucht. Immer wenn ich Menschen sehe, die die Krankheit haben, dann kriegt man Flashbacks und denkt daran zurück, wie es bei einem selbst war. Dass es bei mir eine Zeit gab, in der es ums nackte Überleben ging.

Sie haben im Bezug auf Ihre Psychotherapie vom „stillen Leid in der Kabine“ gesprochen. Haben Sie da Rückmeldung von Profifußball-Kollegen bekommen?

Baumgartl: Fußball ist eine Gesellschaft, in der wenig Schwäche gezeigt wird. Deshalb machen viele Spieler das mit sich selbst aus. Es wird nicht laut ausgesprochen.

Das ist Timo Baumgartl

Timo Baumgartl stammt aus Schwaben - er würde in Böblingen geboren, kam in der Jugend über den GSV Maichingen zum SSV Reutlingen 05. Im Alter von 15 Jahren wechselte er ins Nachwuchsleistungszentrum des VfB Stuttgart, wurde direkt vom Stürmer zum Innenverteidiger umgeschult. Beim VfB blieb er acht Jahre lang, wurde 2013 Deutscher U17-Meister. Er spielte für mehrere Jugendnationalmannschaften des DFB (U15, U18, U19, U21). Für die Profis der Stuttgarter bestritt er 115 Spiele, traf zweimal. Mit den VfB-Profis stieg er zweimal ab (2016, 2019) und einmal auf (2017). Daher kennt er seine Schalke-Mitspieler Marcin Kaminski und Simon Terodde.

Im Sommer 2019 wechselte Baumgartl in die Niederlande zur PSV Eindhoven, unterschrieb einen Fünfjahresvertrag. Dort erfüllten sich seine Erwartungen nicht, im Sommer 2021 ließ er sich zum 1. FC Union Berlin verleihen. Nach zwei Jahren bei den Eisernen endete die Leihe. Der Wechsel zu S04 folgte.

Sie haben viele positive Reaktionen aus dem Profifußball bekommen, nachdem die Krankheit bekannt wurde. Sind Sie der Beweis dafür, dass die Bundesliga Ihre Menschlichkeit nicht komplett verloren hat?

Baumgartl: In manchen Phasen ja, in manchen nein. In der Phase, in der ich akut krank war, habe ich viel Hilfe und Unterstützung von allen Seiten bekommen.

Sie engagieren sich auch für Kinder, die an Krebs erkrankt sind, und im Tierschutz.

Baumgartl: Ich möchte meine Reichweite nutzen, um Sachen anzusprechen, die meiner Meinung nach in der Gesellschaft falsch laufen oder Unterstützung brauchen. Krebskranke Kinder sind ein Beispiel. Durch meinen Hund habe ich auch gemerkt, dass in vielen Regionen der Welt Tiere unfassbar schlecht behandelt werden. Sie sind Lebewesen, mit denen wir die Erde teilen. Sie haben das gleiche Recht, auf der Welt zu sein. Es sei allen freigestellt, ob sie Fleisch essen möchten oder nicht, da möchte ich nicht eingreifen. Aber darauf achten, dass die Tiere artgerecht gehalten werden und trotzdem ein gutes Leben haben, das ist das, was wir Menschen Tieren schulden.

Macht Sie das zu einem besonderen Profi oder können Sie mit so einem Etikett nichts anfangen?

Baumgartl: Es ist mir egal, ob andere sagen, dass ich ein besonderer Profi bin oder nicht. Ich bin ein Profi, der vielleicht ein bisschen mehr über den Tellerrand hinausschaut.

Wann ist die Saison für Sie ein Erfolg?

Baumgartl: 33 Spiele machen, Aufstieg – das würde ich so unterschreiben. Der Verein gehört in die Erste Liga, hier soll etwas aufgebaut werden. Hätte man mir nicht dieses Projekt aufgezeigt, hätte ich diese Wahl für Schalke nie getroffen. Für mich geht es darum, mich zu rehabilitieren. Schalke und mich verbindet ein Stück weit das gleiche Schicksal. Wir wollen uns beide rehabilitieren: Schalke als Verein in der Ersten Liga und ich als belastbarer Profi.

Sie haben in der Jugend Stürmer gespielt. Haben Sie sich auch Tore vorgenommen?

Baumgartl: (lacht) Wenn ich die Chance habe… Aber wir haben mit Simon Terodde einen, der reichlich Tore schießen kann, in der Zweiten Liga sowieso, aber auch in der Ersten, wenn man ihn richtig einsetzt.