Gelsenkirchen. Geisterspiel hin oder her: Derby-Experte Steffen Freund erwartet, dass es am Samstag zwischen BVB und Schalke kracht wie vor vollen Rängen.
Als Spieler bestritt Steffen Freund drei Derbys für Schalke und neun für Borussia Dortmund. Heute arbeitet der Europameister von 1996 als englischsprachiger Co-Kommentator für die DFL und als Experte bei RTL Nitro. Seine erwartungsfrohe Prognose: Auch das erste Geister-Derby an diesem Samstag (15.30 Uhr/Sky) „wird eine packende Angelegenheit“.
Steffen Freund, zählen Sie als TV-Experte zu den wenigen Auserwählten, die beim Derby auf der Tribüne sitzen dürfen?
Steffen Freund: Ursprünglich war ich als Co-Kommentator für die englischsprachige TV-Übertragung vorgesehen. Dann wäre ich im Stadion gewesen, so wie bei den letzten sechs oder sieben Derbys auch. Durch die Zugangsbeschränkungen seitens der DFL hat sich jedoch vieles geändert. Ich werde das Spiel im Fernsehen schauen und dann am Montagabend in „100% Bundesliga“ bei RTL Nitro analysieren.
Ist die Geisterkulisse eher ein Vorteil für das Auswärtsteam?
Freund: Ja, gerade in Dortmund. Der BVB ist bislang das heimstärkste Team der Liga. Mit einer vollen Südtribüne im Rücken ist es oft nur eine Frage der Zeit, bis die Spiele in Richtung Schwarz-Gelb kippen. Den Löwenanteil des Heimvorteils machen nun mal die Fans aus, dieser Faktor fällt jedoch weg. Hinzu kommt, dass beim BVB in Can und Witsel zwei emotionale Leader ausfallen, ein weiterer Vorteil für Schalke. Gerade Can, den ich beim U17-Nationalteam selbst gecoacht habe, ist einer, der immer vorweg geht, indem er wichtige Zeichen setzt. Allerdings fehlt auch bei Schalke mit Mascarell ein wichtiger Mann.
Sie selbst galten ebenfalls als Mentalitätsmonster: immer Vollgas, nie zurückziehen. Kann man dieses Feuer auch vor leeren Rängen in sich entfachen?
Freund: Ja, aber da weiß ich kein Pauschalrezept. Es gibt introvertierte Spieler, die brauchen Menschen, die ihnen eine gewisse Aggressivität vorleben und sie mitreißen. Andere tragen diese Mentalität einfach in sich. Ich selbst war so einer, nicht nur in Derbys. Ich musste zwar nie ein Geisterspiel bestreiten, aber ich behaupte mal: Auch ohne Zuschauer wäre ich bis in die Zehenspitzen motiviert gewesen.
Ein Profi muss immer in der Lage sein, alles zu geben – oder?
Freund: In gewisser Weise schon. Du spielst ja nicht nur für die Zuschauer im Stadion, sondern auch um Punkte, um Prämien, um deinen Stammplatz und für die zig Millionen TV-Zuschauer. An diesem Wochenende wird die ganze Welt nach Dortmund schauen. Vor allem aber kannst du als Spieler zeigen, dass du dich bei einem Derby nicht bloß von den Emotionen der Fans anstecken lässt, sondern dass du diese Rivalität lebst, mit Haut und Haaren.
BVB-Coach Lucien Favre klagte zuletzt über die Geisterspiele. Schalkes David Wagner hingegen betonte: In der Kindheit habe man auch nicht vor Publikum gekickt und trotzdem alles gegeben. Wer hat Recht?
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Freund: Der Ansatz von Wagner gefällt mir besser. Auch in der Vorbereitung, gerade im Winter, hast du Spiele, wo nur fünf Menschen am Rand stehen – dennoch fliegen da die Fetzen. Das erwarte ich auch im Derby. Wobei: Nicht nur die 22 Mann auf dem Rasen können dazu beitragen, auch die Ersatzspieler und das Betreuer-Team, etwa durch Anfeuern und aktives Coaching. Wenn nach einer gelungenen Grätsche 20 Mann aufspringen, die Fäuste ballen und lauthals aufbrüllen, kann das enorm pushen. Favre hat mir im Vorfeld ein bisschen zu sehr das Gefühl vermittelt, dass ohne Fans kein Derby-Kitzel aufkommen kann. Vielleicht müsste er mal etwas raus aus seiner Haut und ein bisschen mehr Emotionalität vorleben. Darüber hinaus wird es für beide Trainer wichtig sein, die richtigen Spielertypen auszuwählen – Jungs, die eine positive Giftigkeit auf den Platz bringen. Dazu gehört auch, dass man mal mit 180 in einen Zweikampf rauscht.
Wenn man im leeren Stadion dem Gegner das Schienbein poliert, klingt das in den Ohren der Schiedsrichter vermutlich dramatischer als vor einer lauten Kulisse. Droht nun eine Kartenflut?
Freund: Ich bin selbst gespannt, wie sich die leeren Ränge auf die Schiedsrichter-Linie auswirken. Natürlich bekommt das Unparteiischen-Team in einer vergleichsweise sterilen Atmosphäre sehr viel mehr mit. Die Schiris wären aber gut beraten, die Linie so zu ziehen, wie sie es auch bei einem vollen Stadion tun würden, und nicht – durch die ungewohnte Situation beeindruckt – gleich beim ersten Foul Gelb zu zücken. Sollte der Schiri doch etwas übersehen, greift hoffentlich der Video-Schiedsrichter ein.
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Vier Tage nach den Terroranschlägen 2001 bestritten Schalke und Dortmund schon einmal ein denkwürdiges Derby. Vor dem Spiel bildeten die Teams einen Kreis zum Gedenken an die Opfer. Nachdem Schalke 1:0 gewonnen hatte, klagte Dortmunds Christian Wörns, man könne nicht Arm in Arm mit dem Gegner trauern und sich anschließend vors Schienbein treten.
Freund: Ich verstehe Christian, aber als Spieler bist du nur ausführendes Organ und musst bestimmte Dinge, die von dir verlangt werden, einfach erbringen – trotz der äußeren Umstände. Corona ist ein Stück weit mit 2001 vergleichbar, die Welt ist geschockt. Andererseits glaube ich: Wenn ein Spiel läuft, bist du als Profi so voll mit Adrenalin und mit Infos über Gegner und Taktik, dass du nicht mehr über die Weltlage nachdenkst. Okay, vielleicht gehen beide Teams in den ersten 20 Minuten noch etwas gehemmt zu Werke, auch wegen der langen Spielpause, aber spätestens dann wird es zur Sache gehen. Es nützt doch keinem Corona-Kranken etwas, wenn ich als Fußballer halbherzig in einen Zweikampf gehe. Es macht aber sehr viele Fans glücklich, wenn ich 90 Minuten alles gebe.
Ihre eigene Derby-Bilanz ist knapp positiv: Als Schalker liefen Sie dreimal gegen den BVB auf – zwei Siege, eine Niederlage. Als Dortmunder bestritten Sie neun Revierduelle – drei Siege, vier Remis, zwei Pleiten.
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Freund: Ich habe jedes dieser Spiele im Kopf gespeichert. Mein erstes Derby war 1991 mit Schalke, 70.000 Zuschauer im Parkstadion: Vorher war ich aufgeregt ohne Ende, dann hab ich die Nervosität einfach in Energie umgewandelt. Wir haben den BVB 5:2 weg gehauen, und ich dachte: Boah, wo bin ich denn hier gelandet? Zu meinen Highlights zählt auch ein 3:2-Sieg mit Dortmund im Jahr 1994: Da haben Stefan Reuter und ich auf rechts eine sagenhafte Partie gemacht.
Sie waren bis 2004 Vize-Vorsitzender der Spielergewerkschaft VdV. Hätten Sie Verständnis, falls ein Profi aus Angst vor Corona nicht spielen will?
Freund: Eher nicht. Wenn ein Spieler wie Kölns Birger Verstraete eine Partnerin hat, die zur Risikogruppe zählt, ist das ein spezieller Fall. Grundsätzlich zählen Fußballer nicht zu den besonders gefährdeten Menschen und ich denke, dass die DFL mit dem Hygiene-Konzept sehr gute Arbeit geleistet hat. Es liegt natürlich an den Spielern, dies auch unter der Woche zu leben. Und was wäre, wenn sich alle weigern zu spielen? Die Vereine könnten die Gehälter nicht mehr zahlen und würden auf die Pleite zusteuern.
Und wer gewinnt nun das Derby?
Freund: Mein Tipp lautet Remis. Aufgrund der langen Pause, der ungewohnten Geisterspiel-Situation und der Vielzahl an Ausfällen beim BVB sehe ich keinen klaren Favoriten. Es wird wohl kein 4:4 werden wie vor zwei Jahren, aber auch kein langweiliges 0:0 – vielleicht ein 2:2. Und der Rasen wird brennen, wetten?