Charkow. Während der Stuhl von Trainer Bert van Marwijk gewaltig wackelt, zerfleischen sich nach dem bittersten EM-Aus in der niederländischen Fußball-Geschichte die Stars gegenseitig. Arjen Robben hat tiefe Gräben zwischen Spielern ausgemacht.

Nachts um halb vier bekamen die heimfliegenden Holländer die Häme ihrer Anhänger zu hören. 'Weltmeister, Weltmeister', schallte es den selbst ernannten 'Versagern' um Arjen Robben höhnisch entgegen, als sie nach dem größten anzunehmenden Unfall in der niederländischen EM-Geschichte ins Sheraton-Hotel am Ufer der Wisla zurückkehrten. Keine zwölf Stunden wollten sie sich nach diesem niederschmetternden 1:2 (1:1) gegen Portugal im ukrainischen Charkow noch in ihrem Mannschaftsquartier in Krakau aufhalten, für 15.30 Uhr war der Abflug des Vize-Weltmeisters vorgesehen. Nichts wie weg. Mit 'eingezogenem Schwanz'.

Die nächsten Tage könnten schmutzig werden. Drei Spiele, drei Niederlagen: Wie geprügelte Hunde waren Robben und Kollegen nach dem historischen Desaster vom Platz geschlichen, und kaum waren sie raus aus der EM, setzte bereits die Selbstzerfleischung ein. 'Wir haben alle versagt', sagte Robben, 'die Spieler, das Trainerteam, alle.' Seine deutliche Meinung vertrat er wohl schon während des Abschiedsspiels: Robben legte sich dem Vernehmen nach mit Bondscoach Bert van Marwijk an ('Halt deinen Mund'), als dieser mehr Abwehrarbeit eingefordert hatte. Vor dem Spiel hatte van Marwijk noch die totale Offensive angekündigt.

Tiefe Gräben zwischen den Spielern der niederländischen Nationalmannschaft

'Voetbal total'? Eher 'Fußball fatal'. Und es war van Marwijk, dessen Vertrag erst Ende vergangenen Jahres bis 2016 verlängert worden war, der sich nach dem Spiel das Büßerhemd überzog. 'Ich habe sicherlich auch versagt', sagte er. Über ein vorzeitiges Ende seiner Tätigkeit als Nationaltrainer wollte van Marwijk (60) allerdings nicht reden: 'Ich beschäftige mich eine Viertelstunde nach dem Schlusspfiff nicht mit meiner Zukunft.' Das tun allerdings bereits die niederländischen Medien. Die Tageszeitung De Volkskrant schreibt bereits vom 'vermutlich letzten Spiel unter Bondscoach Bert van Marwijk'.

Aber, wie Robben schon andeutete, van Marwijk trägt nicht die Alleinschuld. Ausgerechnet der Angreifer von Bayern München, der in seinem Klub schon mal als 'Aleinikow' verspottet wird, beklagte bereits vor dem entscheidenden Spiel gegen die Portugiesen die 'vielen großen Egos' in der Mannschaft. Hinterher wurde er noch ein bisschen deutlicher. 'Wir müssen nun alle gut in den Spiegel schauen', sagte Robben und behauptete: 'Innerhalb der Mannschaft standen nicht alle Nasen in derselben Richtung.' Der Tageszeitung De Telegraaf genügten drei Worte, um das alles in Worte zu fassen: 'Oranje, schäme dich!'

Der historisch schwache Auftritt hat die Niederländer kalt erwischt. Sie hatten so viel Potenzial im Angriff, dass sie darüber diskutierten, wen sie nun draußenlassen sollten. Van Persie, Huntelaar, Sneijder, van der Vaart, Kuyt - und Robben. Jeder wollte spielen, jeder hielt sich für unverzichtbar. Zustande brachten sie: zwei Treffer. 'Katerstimmung im ganzen Land. Ohne einen einzigen Punkt geholt zu haben, verlässt Oranje mit eingezogenem Schwanz die EM', klagte der Telegraaf. Vor zwei Jahren waren die Niederländer mit erhobenem Haupt nach Amsterdam zurückgekehrt - als Vize-Weltmeister.

Van Marwijk darf vorerst Bondscoach bleiben

Noch hat van Marwijk Rückendeckung vom Verband. 'Ein Abschied steht nicht auf der Tagesordnung. Ich finde, dass der Bondscoach Kredit verdient. Er ist der Mann, der uns problemlos durch zwei Qualifikationen und ins WM-Finale geführt hat', sagte Bert van Oostveen, Direktor des niederländischen Fußball-Verbandes KNVB. Ob van Marwijk noch Lust hat, ist angesichts der Auftritte und Aussagen seiner Stars in den letzten Tagen aber mehr als fraglich.

So ausgeprägt die Lust an der Selbstzerfleischung bei den Holländern zu sein schien, so gering war die Bereitschaft zur Selbstkritik. 'Ich bin unzufrieden über meine Rolle', maulte Wesley Sneijder, 'ich bin auf dem linken Flügel immer hinter den Verteidigern hergelaufen.' Sneijder hatte nach den Spielen gegen Dänemark (0:1) und Deutschland (1:2) eine neue Taktik gefordert.

Immerhin sprach sich Sneijder (28), der ganz offen die Kapitänsbinde des abservierten Mark van Bommel eingefordert hat, für einen Verbleib des Trainers aus. 'Ich denke, dass diese Mannschaft noch eine gute Zukunft hat, auch mit van Marwijk als Bondscoach.' Die Gegenwart spricht allerdings eine andere Sprache. (sid)