Charkow. . Lähmende Debatte um die Torjäger. Ein frühes Scheitern bei dieser EM kann die titellose Generation um Sneijder, Robben und van Bommel endgültig entzweien.
Nötig für den Einlass ist ein orangefarbenes Bändchen. Was sonst? Das so genannte „Oranje-Camping“ von Charkow hat sich rasch zu einer sogar von Einheimischen bestaunten Institution entwickelt. Aber wie lange bleibt diese fröhliche Delegation noch? Erste Fans haben angekündigt, nach einer Niederlage gegen Deutschland unverzüglich abzureisen und sich das – eventuell bedeutungslose – letzte Gruppenspiel gegen Portugal zu schenken.
In der Heimat werden derweil andere Debatten geführt. Da geht es um die grundsätzliche Titel-Verträglichkeit der Generation Wesley Sneijder, Arjen Robben oder Robin van Persie. Bis 2010 nur fähig, um bei EM oder WM punktuelle Glanzlichter zu setzen. Dann, vor zwei Jahren in Südafrika, schien dieses Ensemble so nahe an der Krönung wie nie zuvor – wenn Robben nicht an der Stiefelspitze von Iker Casillas gescheitert wäre.
Keine Liebesbekundungen
Diese EM, das weiß auch Nationaltrainer Bert van Marwijk, ist im Grunde vielleicht schon eine der letzten Möglichkeiten dieser Artisten. Sneijder, Robben und van Persie als prägende Gesichter sind allesamt 28 Jahre – eigentlich das beste Fußballalter. Bei einem Scheitern in der Vorrunde ginge es unweigerlich auch um einen Nationaltrainer, den der „Nederlandse Voetbalbond“ eigentlich nicht in geistiger Umnachtung bis 2016 an sich gebunden hat. Der Trainer hatte schon bei der WM 2010 keine Liebesbekundungen empfangen, weil vielen Landsleuten die von Taktik geprägte Spielweise nicht gefiel.
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Derzeit steht der Kader sich ein bisschen selbst im Wege. Eigentlich müsste sich eine Nation glücklich schätzen, zwei Tormaschinen wie Klaas-Jan Huntelaar und Robin van Persie – Schützenkönige in Deutschland und England – im Aufgebot zu führen; die Niederländer haben es geschafft, daraus eine lähmende Debatte entstehen zu lassen. Während in derselben Causa Mario Gomez und Miroslav Klose kein schlechtes Wort übereinander fallen lassen, gehört es beim Nachbarn dazu, Unmut zu beklagen – oder wie Huntelaar gegen Dänemark offen zu zeigen, als er sich betont lustlos aufwärmte.
„Elf Freunde holen keinen Titel“, hat van Marwijk einmal gesagt. Kein Geheimnis, dass die Elftal schnell zum Hort der schlechten Laune mutiert, wenn der Erfolg ausbleibt. Was sie nun eint, ist verbale Kraftmeierei. „Das Spiel gegen Deutschland wird eine Schlacht“, sagt Johnny Heitinga, der in der Innenverteidigung wohl nun von Joris Mathijsen unterstützt wird. Beide bleiben im Aufbauspiel limitiert. Und dann muss auch die Frage gestellt werden, warum die Ausbildungsnation Niederlande nicht mehr Abwehrtalente wie den frechen Jetro Willems hervorbringt, der mit 18 Jahren und 71 Tagen zum Auftakt als jüngster Spieler der EM-Geschichte auffiel. Gregory van der Wiel taugt auf der rechten Seite nicht zum Prototyp des modernen Außenverteidigers – das verbindet ihn mit Jerome Boateng.
Van der Vaart verbal zu allem bereit
Interessant wird sein, ob van Marwijk das Problem des zu behäbigen Umschaltspiels damit löst. Als Nebenmann von Trainer-Schwiegersohn Mark van Bommel drängt Rafael van der Vaart auf einen Einsatz. Verbal scheint der Ex-Hamburger zu allem bereit. Die 0:3-Lehrstunde vor einem halben Jahr sei „ein Unfall“ gewesen, behauptete er. Deutschland? „Natürlich haben sie eine gute Mannschaft, aber wenn ich die sehr guten Spieler aufzählen muss, dann komme ich auf drei: Özil, Götze und Schweinsteiger.“ Allerdings steckt beim Deutschland-Kenner auch viel Eigennutz dahinter. Nach seiner Ansicht ist die Doppel-Sechs mit ihm besser besetzt: „Das ist kein zu großes Risiko. Ich kann das Spiel besser laufen lassen.“ Reicht das? Ansonsten läuft beim „Orange-Camping“ die Abreise an.