Essen. Was wäre so ein großes Fußballturnier wie die Europameisterschaft 2012 ohne die Niederlande, den Lieblingsgegner der Deutschen? Sechs Sportredakteure verraten, was sie ganz persönlich mit dieser brisanten Begegnung verbinden.
Manchmal muss ein Mann eben tun, was ein Mann eben tun muss, selbst dann, wenn es sich bei ihm um ein Bürschchen ohne Rasierproblem handelt. Als meine Eltern angekündigt haben, wer gemeinsam mit uns das Finale der Weltmeisterschaft anschauen würde, habe ich also meine Tasche gepackt und bin gegangen. Oder besser: Ich habe die stets gepackte Sporttasche über die Schulter geworfen und bin hoch gelaufen zur Halle, dahin, wo üblicherweise Fußball gespielt wurde um diese Zeit.
Es war 1974. Es war ein Akt wilden Aufbegehrens. Es war eine Art Selbstverstümmelung, die meinen Eltern demonstrieren sollte: Ihr habt mir meine Nationalelf geraubt, ihr habt mir das Herz aus der Brust gerissen. Aber, gut. Ich mochte die eingeladenen Leute nicht. Ich war natürlich sehr einsam in der Halle. Und ich hatte mich tatsächlich irgendwie selbst verstümmelt. Zumindest spüre ich noch immer einen leichten Schmerz.
Später habe ich den deutschen 2:1-Sieg doch gesehen. Super 8. Flackernde Bilder, kaum etwas zu erkennen. Johan Neeskens, Elfmeter in die Mitte des Tores. Paul Breitner, Elfmeter, Ausgleich. Dann Gerd Müller. Klar. Bomber. Titel. Zigarren und so weiter. Ich habe gedacht: Die Holländer haben dennoch insgesamt bei diesem Turnier den besseren Fußball gespielt. Wahrscheinlich, weil ich kein Herz mehr in der Brust hatte. (Frank Lamers)
Peter Müller über Marco van Bastens Tor bei der EM 1988
Die EM 1988 in Deutschland war das Turnier der Holländer. Beim 2:0 im Finale in München gegen das tapfere Team der Sowjetunion brachte sie Ruud Gullit in Führung, ihr charismatischer Regisseur. Sah aus wie Bob Marley, konnte aber schlechter singen und besser Fußball spielen. Mit dem zweiten Tor trug sich Marco van Basten ins Geschichtsbuch des Fußballs ein. Arnold Mühren flankte von der linken Strafraumkante weit und schräg hinüber auf die andere Seite, dort nahm van Basten die Kugel volley und katapultierte sie technisch perfekt aus spitzem Winkel oben ins hintere Toreck.
Einmalig? Zwei Wochen danach habe ich mich in einem Anflug von Übermut (oder Größenwahn?) an der Kopie versucht. In der Kreisliga. Einfach mal volley genommen, den Ball. Ist ebenfalls eingeschlagen. Bei mir hat bloß kein Schwein zugeschaut. Ein Mitspieler hat mich Marco genannt, immerhin. Doch die Bewunderung ist zügig in Belustigung umgeschlagen. Weil ich das Ding im Training noch ein paar Mal probiert habe. Die Suche nach den Bällen im Gebüsch weit hinter dem Vereinsheim hat Tage gedauert.
Thorsten Schabelon über Müllmann-Trikots und Rafael van der Vaart
Ganz nüchtern betrachtet dürfte ich nichts gegen Holländer haben. Als Kind habe ich mit Begeisterung ihre Strände umgegraben. Aber beim gruppendynamischen Erlebnis „Fußballschauen“ sieht man Dinge selten ganz nüchtern. Und in der aufmüpfigen Lebensphase zwischen 15 und 20 hat man ziemlich viel gegen ziemlich viel. Wie gegen Deutschland schlagende oder spuckende Gegner in Müllmann-Trikots. Zum Glück waren am Ende meine deutschen Fußballer meist weiter vorne. Am Lagerfeuer beim Zelten und vor dem Fernseher stimmten wir im Chor die Holland-Hymne der linken Liedermacher von Joint Venture an: „Ich liebe Super Skunk und ich liebe Sauce Special. Aber eine Sache gibt’s, da bin ich meganational: Es kam über die Jahre und jetzt sitzt es ziemlich fest: Solang’s um Fußball geht, hass’ ich Holland wie die Pest.“
Vorbei. Erfahrungen machen auch Fußball-Fans altersmilde. Rafael van der Vaart begeisterte mich beim geschätzten HSV. Und meine Freundin trägt ihre niederländischen Wurzeln nicht nur im Namen. Sie beweist mir auch, dass Orange modisch sein kann. Siegen soll Holland heute nicht. Aber am Ende weiterkommen. Nur nicht, wie 2010, weiter als wir.
Daniel Berg über die EM 1988
An der Realität ließ sich nichts machen. Der EM-Gastgeber: geschlagen vom Erzrivalen. Ich war sieben, als Deutschland und Holland 1988 im EM-Halbfinale von Hamburg aufeinandertrafen und einer Verlängerung entgegenwankten. Bis Marco van Basten dieses Tor schoss. Sekunden vor Schluss.
Wut sollte die Erinnerung an damals eigentlich prägen. Aber es ist eine merkwürdige Faszination, die mich beim Gedanken an diesen Schuss beschleicht. Man sagt, Tore entstünden aus Fehlern. Dieses aber nicht. Jürgen Kohler war da, Eike Immel war wachsam, aber van Basten nutzte die etwa sechs Zentimeter Platz, die er hatte, zu diesem Treffer. Unsere Wohnung hatte damals einen langen, schmalen Flur. Dort spielte ich die Tore eines jeden Bundesligaspieltags nach. Die Fußleisten waren gesprengt von herabstürzenden Bilderrahmen. Meine Eltern liebten das. Da bin ich mir sicher.
Kein Tor habe ich häufiger versucht nachzuspielen als jenes. Ich war van Basten, ich war Kohler, ich war Immel. Und wenn ich die Szenen übereinander legte, hat Immel immer gehalten. Immer. Während ich meine eigene Realität erfand, verrauchte der Ärger. Bis heute erfolgreich.
Walter Brühl über das WM-Finale 1974
Unglaublich war’s! WM-Finale 1974, Deutschland gegen Holland in München. Meine spätere Ehefrau erzählte, wie sie mit Eltern und Schwestern auf dem Campingplatz im holländischen Domburg den 2:1-Sieg von Franz Beckenbauer und Kollegen über Johan Cruyff und Co. im Fernsehen sahen. Und wie sie jubelten. Und wie die vielen Holländer in den benachbarten Zelten und Wohnwagen plötzlich überhaupt nicht mehr so freundlich waren wie zuvor.
Nanu? Holländer in Holland? Mitten im Sommer? Wenn das nicht unglaublich war! Dabei wusste jeder: Der Holländer packt zu Beginn der großen Ferien die Familie in den Wohnwagen, dazu Proviant für die nächsten acht Wochen, und fährt außer Landes. Man fragte sich auch, wie so ein kleines 17-Millionen-Volk in der Lage sein konnte, ein Fußballteam auf die Beine zu stellen, das Beckenbauer, Overath, Müller, also die Besten aus Deutschland (damals gut 60 Millionen Einwohner), in Angst und Schrecken versetzen konnte? Am Ende hatten Beckenbauer und Co. aber doch 2:1 gewonnen. Auch unglaublich!
Dirk Graalmann über seinen Respekt vor diesem kleinen Land
Portugal? Dänemark? Kannten wir nur aus dem Atlas. Holland aber war immer da. Ganz früh. Ganz prägend. Als meine heutige Frau, damals noch ein siebenjähriges Mädchen, Anfang der Achtziger Jahre, in Den Haag auf einem Kinderspielplatz gedemütigt wurde mit den Worten: „Heil Hitler.“ Als ich, in Ostfriesland, im Grenzgebiet, am Sonntag stets die Spiele der Eredivisie auf NOS verfolgte, noch ehe wir in unserem Kaff ahnten, dass es RTL und Sat.1 schon gab. Die Zeit noch, als an der grünen Grenze, nach dem Achtelfinale bei der WM 1990, am Schlagbaum nicht nur Worte flogen. Es war halt so. Immer schon. Dachte ich.
Doch mit zunehmendem Alter wuchs nicht nur der Verstand, sondern auch der Respekt vor diesem kleinen Land, vor diesen Menschen, die auf dem Fahrrad jedem Wetter-Unbill trotzen – und erst recht vor ihrem Fußball, der schön war, so anders, und dessen Scheitern einen eigenartigen Charme besaß. Ich habe dieses Land, diese Menschen lieben gelernt. Einer unserer Söhne heißt Maurits, unsere kleine Tochter haben wir nun Margrietje genannt. Es ist das jüngste Zeichen zur Versöhnung. Und, ja wirklich, wir finden diese Namen schön.