Danzig. Warum es so schwierig geworden ist, den deutschen vom niederländischen Spielstil zu unterscheiden. Die Frage wird sich auch am Mittwoch in der Neuauflage des Klassikers wieder stellen
Mario Gomez ist ein schönes Beispiel. Er sitzt im deutschen Mannschaftsquartier in Danzig, neben ihm der Bundestrainer und ein riesiger, kleinwagengroßer Fußball. Der Stein, der dem Stürmer vom Herzen gefallen sein dürfte, als er sein Tor gegen Portugal erzielte und Deutschland einen gelungenen Auftakt in diese EM bescherte, wird ähnliche Dimensionen gehabt haben. Doch Gomez sitzt nicht weich wie auf einer Sänfte, die seiner Heldentat wegen von nationaler Zuneigung getragen wird. Gomez sitzt hart wie auf einer Anklagebank. Verdächtigt, ein Totengräber des schönen Spiels zu sein.
In Krakau wiederum sitzt ein anderer Mann. Sein Name ist Bert van Marwijk. Der holländische Nationaltrainer sagt: „Es ist doch klar, dass hier keiner auf dem Tisch tanzt oder eine Polonaise macht.“ Die Stimmung ist schlecht, das erste Spiel wurde verloren, das frühe Aus droht schon am Mittwoch. Deshalb ist van Marwijk ebenfalls angeklagt. Erst als Totengräber der holländischen Fußballgeschichte, dann als zu deutsch. Seit Samstag allerdings als zu wenig deutsch. Weil ihm einer wie Gomez fehlte, einer, der mal ein Tor macht.
Die Liste von Gomez’ fußballerischen Ahnen ist lang. Sie brachten Siege zustande, über die sich tatsächlich nur deutsche Fans freuen konnten, weil sie von so überschauberer Schönheit waren. Männer in weißen Trikots briegelten sich Jahrzehnte lang zu merkwürdigen Siegen und überall auf dem Globus fragte man sich: Wie? Und warum? Es war eine Zeit, in der die Welt mit einer Mischung aus Machtlosigkeit und Wut nach Germany schaute.
Rauschhaft und betörend
In jenen Zeiten wäre ein EM-Auftaktsieg überschwänglich gefeiert worden. Von deutschen Fans zumindest. Sein Zustandekommen: total Hupe. Der Torschütze: ein Held. Mario Gomez und seine Kollegen machen gerade die Erfahrung, dass sich der deutsche Anspruch offenbar verändert hat. Bisweilen betörend schöne Siege hat Bundestrainer Joachim Löw in den vergangenen Jahren mit seiner Mannschaft hingezaubert.
Und nach dem rauschhaften 3:0 gegen die Niederlande im November 2011, nach dieser Lehrstunde, dieser Demütigung für das niederländische Team gab Bondscoach Bert van Marwijk den Staffelstab des schönen Spiels galant weiter: „Deutschland ist unglaublich stark in der Umschaltbewegung“, sagte van Marwijk. Um nachzuschieben: „Das konnten die Deutschen früher schon. Aber jetzt können sie auch Fußball spielen.“ Es war das größtmögliche Lob: Und für die Deutschen das größtmögliche Versprechen. Die Fans wollen diesen schnellen und technisch anspruchsvollen Kombinationsfußball gerade jetzt bei der EM sehen. Diesen Fußball, wie ihn immer Holland spielte.
Ihr Fußball total (Voetbal totaal) war immer so etwas wie der Gegenentwurf zum deutschen Rumpel-Roulette. Darauf ist man stolz in den Niederlanden. Weniger darauf, dass diese Art des Spiels nur zu einem EM-Titel reichte, während das Nachbarland regelmäßig auch Weltmeistertitel abgriff. So wie 1974, als Voetbal totaal und Fußball rational im Finale aufeinandertrafen. Durch das WM-Turnier 2010 spielte sich Deutschland holländisch – Platz drei. Holland grätschte sich beinahe deutsch auf Platz zwei.
Van Marwijk, der frühere BVB-Trainer, hatte seine Mannschaft auf defensive Stabilität getrimmt. Der Erfolg ließ die Kritik an der Verleumdung des eigentlichen Oranje-Stils verstummen. Nun blieb der Erfolg erstmals aus, das Debakel der früheren Heimreise droht im Spiel gegen die effektiven Deutschen.
Schön oder erfolgreich?
Es ist ein Duell, das noch vor Monaten eine Verheißung war, auf einen zauberhaften, spektakulären Fußball-Abend. Doch die Realität sieht so aus: Deutschland zitterte sich zu einem Sieg, Holland spielte fein nach vorn, brachte es aber trotz der versammelten Offensiv-Elite mit van Persie und Huntelaar, mit Robben und Affelay, mit Sneijder und van der Vaart, zu genau null Toren.
Joachim Löw und Bert van Marwijk stehen also vor einer schwierigen Aufgabe. Sie müssen das Gleichgewicht finden zwischen schön und erfolgreich. Manchmal muss man sich für eines von beiden Attributen entscheiden. So wie Löw gegen Portugal. „In der Qualifikation waren mir die Ergebnisse von 6:2 und 4:2 lieber. Aber in einem Turnier ist die defensive Stabilität sehr wichtig“. Er sagt das ruhig und gelassen und gut gelaunt. Denn Fußball ist nicht nur total oder rational, sondern vor allem banal: wer das Tor schießt, gewinnt. Mario Gomez hat ein Tor geschossen.