St. Leonhard. Marco Reus von Borussia Dortmund könnte bei der WM in Brasilien eine wichtige Rolle in der deutschen Nationalmannschaft spielen. Im Interview spricht der Top-Scorer der abgelaufenen Bundesliga-Saison über Vergangenes, Fehler, Fanmeilen und falsche Neuner.

Marco Reus möchte lieber nicht auf der Terrasse des Hotels Andreus Platz nehmen, des Quartiers der Nationalmannschaft in Südtirol. Zu zugig. Aber die Fenster des Restaurants bieten auch eine prächtige Aussicht: links die Berge, rechts übt Kollege Thomas Müller das Golfen. Reus spricht über den Ball, der ihm nicht nur vor der WM in Brasilien wichtiger ist: als Fan, Profi, Deutscher.

Sie wurden 1989 geboren, Herr Reus. Den letzten großen Erfolg der Nationalelf bei einer WM, den Titelgewinn 1990 in Italien, werden Sie nur sehr verschwommen wahrgenommen haben…

Marco Reus: Genau. Verschwommen.

Was war Ihre erste WM-Erfahrung?

Reus: 1990 war ich noch nicht auf der Höhe. Mit drei, vier Jahren war ich aber schon sehr fußballinteressiert. Schon in diesem sehr jungen Alter gab es für mich eigentlich immer nur Fußball. 2006 war es dann ganz extrem, als ich selbst auf der Fanmeile war, die Nationalmannschaft angefeuert und gehofft habe, dass wir den Titel holen. Und jetzt bin ich selbst dabei, im Kreis der Nationalmannschaft: Da wird natürlich ein Traum wahr.

Auch interessant

Der Kreis der Nationalmannschaft fühlt sich sicher anders an als Fanmeile…

Reus: Ja. Das ist ja klar. 2006 habe ich bei Borussia Dortmund in der Jugend gespielt. Damals konnte ich nur hoffen, dass ich Bundesliga spielen und vielleicht sogar Nationalspieler werden würde.

2006 auf der Fanmeile, haben Sie da das empfunden, was fröhlicher Patriotismus genannt wurde, so ein Deutschland-Gefühl, wie es vorher kaum möglich schien?

Reus: Das war schon Wahnsinn. Ich habe in Dortmund gelebt. Und da war die Hölle los. Auch wenn Deutschland nicht gespielt hat. Ich glaube, ich habe jedes Spiel beim Public Viewing verfolgt, habe Menschen kennen gelernt aus allen Ecken der Erde. Und das ist auch ein wichtiger Teil des Fußballs: dass man Leute kennen lernen kann aus vielen anderen Ländern. Wir haben alle zusammen gefeiert bei dieser WM. Großartiges Erlebnis.

Die Nationalmannschaft ist bei ihrer Vorbereitung immer sehr abgeschlossen. Vermissen Sie dann ein bisschen die Emotionen, die Sie damals erleben konnten?

Reus: Ich glaube, das ist das ganz normale Fußballgeschäft. Ich persönlich habe mich damit abgefunden, weil ich weiß, dass es nicht anders möglich ist. Ich habe aber auch Tage, an denen ich zu Hause bin, in denen ich Urlaub habe. In der Öffentlichkeit ist das ungezwungene Auftreten manchmal schwierig, weil man ja immer als der bekannte Fußballer gesehen wird. Jeder muss da einfach seinen eigenen Weg finden, den man gehen kann, ohne sich als Mensch zu verändern.

Auch interessant

Sie haben gesagt, ab dem dritten, vierten Lebensjahr: nur Fußball. Wie viele Stunden im Schnitt spielen Sie Fußball, schauen Sie Fußball im Fernsehen…

Reus: Also, für mich ist es sehr wichtig, dass ich einfach auch einmal abschalten kann. Man hat jeden Tag Training beim Verein. Oder man hat wie jetzt ein so großes Turnier wie die WM vor der Brust, auf das man einfach seine ganze Konzentration richten muss. Das fängt doch nicht erst beim Turnier an, sondern viel, viel früher. Man muss hart arbeiten, man muss immer Einsatz zeigen. Ich trainiere, dann trainiere ich noch individuell, um mich weiter zu verbessern...

Wird das nicht immer schwieriger, weil der Fußball in der Entwicklung die Grenzen ausgelotet hat?

Reus: Es wird für jeden Spieler immer schwieriger, weil die Leistungsdichte so groß ist. Dennoch gibt es immer Sachen zu verbessern. Jeder macht Fehler. Das perfekte Spiel gibt es für mich nicht. Man muss versuchen, als Mannschaft so perfekt wie möglich zu agieren. Auf der anderen Seite ist es auch wichtig, dass man abschalten kann, dass man, wenn man nach Hause kommt, den Fußball auch mal zur Seite legen kann.

Marco Reus über Fehler, Fernsehen und falsche Neuner 

Also: geringer Fernsehkonsum?

Reus: Ganz abschalten kann man vielleicht nur im Urlaub, wenn man ganz raus ist. Aber ich bin seit vier, fünf Jahren richtig im Fußballgeschäft. Und natürlich habe ich mich weiterentwickelt. Ich weiß heute, was ich machen muss, weil ich weiß, wo ich früher Fehler gemacht habe. Aus meinen Fehlern habe ich viel gelernt. Ich bin schlauer geworden und weiß jetzt öfter, wie ich mich verhalten muss.

Welchen Spielstil schätzen Sie, wenn Sie sich dann doch zum Vergnügen vor den Fernseher setzen: Von welcher Nationalmannschaft sehen Sie am lieben Spiele?

Reus: Ich glaube, wir dürfen nicht den Fehler machen, von anderen Mannschaften zu reden. Wir sollten uns auf uns konzentrieren…

Es ging nur darum: Welche Mannschaft sehen Sie gern spielen?

Reus: Wir selbst reisen als Nationalmannschaft mit großen Ambitionen nach Brasilien! Aber es gibt natürlich andere Mannschaften mit klasse Einzelspielern. Und Italien zum Beispiel spielt guten Fußball, taktisch auf einem hohen Niveau. Da darfst du dir keinen Fehler erlauben. Aber eine Lieblingsmannschaft, der ich besonders gerne zuschaue? Habe ich eigentlich nicht.

Sie gehören zu einer Spielergeneration, der Deutschland eigentlich immer gerne zuschaut. Das hat sich ja seit 2004 entwickelt, dass man nicht nur die Ergebnisse der Mannschaft bewundert, sondern auch deren Spiel. 1998 galt als Tiefpunkt. Haben Sie die WM-Viertelfinalpartie gesehen? Das 0:3-Aus gegen Kroatien?

Reus: Davor Suker! Hat er zwei Tore oder drei gemacht? War natürlich nicht so schön, weil Kroatien deutlich besser war und Suker wirklich ein überragendes Spiel gemacht hat. (Anm. d. Red.: aber nur ein Tor.) Als Kind habe ich da eigentlich noch mehr mitgefiebert, als ich es heute machen würde: Ich war schon sehr, sehr enttäuscht, dass wir nicht weiter gekommen sind.

Auf dem Platz standen am Ende: Jürgen Klinsmann, Olaf Marschall, Ulf Kirsten und Oliver Bierhoff. Klassische deutsche Mittelstürmer. Wäre das noch denkbar?

Auch interessant

Reus: Denkbar ist für mich alles. Aber der Fußball hat sich weiterentwickelt. Es gibt nicht mehr nur diesen klassischen Stürmer. Das Spiel ist so viel schneller geworden, man muss technisch auf der Höhe sein, die Technik wiederum entwickelt sich weiter. Da gibt es auch keine Grenzen. Und heutzutage kann man mit zwei, drei verschiedenen Systemen in einem Spiel spielen. Wenn es nicht läuft, wechselst du einfach das System. Und man kann als Spieler auch nicht nur eine Position spielen, man muss mehrere Positionen spielen können...

Wird zuviel Aufhebens um den Bogen mit der taktischen Formation gemacht?

Reus: Ja.

Wenn der Bundestrainer aber nun zu Ihnen kommt und sagt: Marco, Sie spielen bei der WM ganz vorne drin, auf der Position des zentralen Stürmers, dann wird ganz Klinsmann-Marschall-Kirsten-Bierhoff-Deutschland trotzdem über die falsche Neun diskutieren…

Reus: Wissen Sie, das ist dann eben eine Diskussion. Ich lasse das nicht so an mich heran. Ich kann das sehr gut: mich davon befreien.